Das Mordkreuz
Wie es bereits im Gutachten des Sachverständigen gestanden hatte, waren die Bremsscheiben des Fiat bis auf den Zahn abgefahren. Eine ausreichende Bremsleistung war bei einer Geschwindigkeit von achtzig Kilometern nicht zu erwarten gewesen.
Warum, fragte er sich, war die Frau in einem derart desolaten Auto unterwegs? Sie hätte doch wissen müssen, dass sie einer drohenden Kollision nie und nimmer hätte ausweichen können. Und genau das wollte er in der Werkstatt herausfinden, in der ein Reparaturtermin angesetzt, aber laut Gerald Wilde nicht eingehalten worden war. Er fand den Chef der Werkstatt unter der Hebebühne.
«Womit kann ich dienen?», fragte der Mann.
Heinlein stellte sich vor und fragte nach dem Reparaturtermin Rosie Wildes aus dem vergangenen Jahr.
«Kommen Sie mit», antwortete er. Sie gingen ins Büro. «Sie haben Glück, dass die Steuer aus dem letzten Jahr noch nicht fertig ist.»
Aus einem Stapel von Ordnern zog er das abgegriffene Auftragsbuch hervor und blätterte es durch. «Wilde, lassen Sie mich mal sehen. Der weiße Fiat Uno, richtig?»
«Genau.»
«Wann soll der Termin gewesen sein?»
«Im Oktober.»
Sein ölverschmierter Finger fuhr über hingekritzelte Einträge. «Hier ist er. Die Bremsscheiben sollten ausgetauscht werden. Stimmt, ich erinnere mich. Das war der schreckliche Unfall bei der Autobahnauffahrt.»
«Wer hat den Termin vereinbart?»
«Ich nehme an, der Gerald.»
«Sie kennen Herrn Wilde näher?»
«Früher schon, ich meine vor dem Unfall seiner Frau. Da hat er mir seinen Wagen regelmäßig zur Inspektion gebracht. Er war in diesen Dingen immer sehr genau. Aber nachdem das mit seiner Frau passiert ist, ist er nicht mehr aufgetaucht. Ich glaube, er macht mich irgendwie dafür verantwortlich. Dabei habe ich es ihm bei der vorangegangenen Inspektion schon gesagt, dass die Bremsscheiben nicht mehr lange durchhalten.»
«Das war also schon vor dem Unfall offensichtlich?»
«Wie man’s nimmt. Solange ein Fahrzeug nicht bewegt wird, muss man sich wegen der Bremsen auch keine Sorgen machen. Aber seine Frau ist damit täglich zur Arbeit gefahren. Für mich war das schon ziemlich gewagt.»
«Seine Frau wollte den Wagen ja am Vorabend des Unfalls vorbeibringen.»
«Das würde mich wundern. Alles, was mit Technik zu tun hatte, war Geralds Aufgabe.»
«Gerald Wilde hatte also den Termin vereinbart und wollte das Fahrzeug auch bringen?»
«An die Terminvergabe kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber Frau Wilde habe ich hier noch nie gesehen. Wenn jemand ein Auto gebracht hat, dann war es Gerald. Ich glaube, die Bremsscheiben liegen hier noch immer herum.»
«Woher wussten Sie, dass die Bremsen an dem vereinbarten Termin gemacht werden sollten? Es hätte ja auch etwas anderes sein können.»
«Weil es mir Gerald gesagt hatte. Deshalb hatte ich die Bremsscheiben ja bestellt.»
Heinlein ließ sich diese neuen Informationen durch den Kopf gehen. Wieso hatte er das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte? «Wurden Sie damals von der Polizei befragt?»
«Es hatte mal jemand angerufen und wollte wissen, ob das mit dem Termin zutraf.»
«Aber bei Gericht wurden Sie nicht vorgeladen?»
«Nein.»
Damit hatte sich Mangel allein auf den Bericht des Sachverständigen und die Angaben Gerald Wildes verlassen, schlussfolgerte Heinlein. Das war legitim. Dennoch, bei einer genaueren Überprüfung hätte er herausgefunden, dass Wilde, der sich für die Technik verantwortlich fühlte, einen überfälligen Reparaturtermin hatte verstreichen lassen.
Heinlein bedankte sich für die Auskunft und ging zurück zum Auto. Er schlug die Akte auf. Laut Wildes Aussage wollte seine Frau das Fahrzeug in die Werkstatt bringen. Da sie es versäumt hatte, wollte sie es am folgenden Tag nachholen.
Seltsam, dachte Heinlein. Er würde das nicht so stehen lassen und Gerald Wilde nochmals befragen.
Als der Gong verklungen war, öffnete nicht Gerald Wilde die Tür, sondern eine Frau. Sie hatte die braungelockten Haare mit einem orangefarbenen Seidentuch hochgebunden und trug ein dünnes Sommerkleid in derselben Farbe. «Sie wünschen?», fragte sie freundlich.
«Ich hätte gern Herrn Wilde gesprochen.»
«Der ist auf der Arbeit. Soll ich ihm etwas ausrichten?»
«Ich nehme an, Sie sind seine Freundin, Verlobte oder Lebensgefährtin?»
«Letzteres.»
Heinlein stellte sich vor und berichtete von seinem gestrigen Besuch. Er hätte noch etwas zu klären. Ob er eintreten dürfe?
«Sicher», antwortete
Weitere Kostenlose Bücher