Das Moskau-Komplott
plötzlich erhellte sich ihr Gesicht wie das eines Kindes, das sich verlaufen hatte und seine Mutter wiedergefunden hat. Gabriel drehte sich um und sah den Filmemacher herauskommen, gefolgt von zwei anderen Gästen. Zigaretten wurden angezündet, Getränke geholt, und Augenblicke später unterhielten sich alle vier in rasendem Russisch, als sei Mr. Golani überhaupt nicht vorhanden. Gabriel war überzeugt, dass er sein Blatt überreizt hatte und dass Olga jetzt für immer für ihn verloren war, doch als er sich zum Gehen wandte, spürte er wieder ihre Hand auf seinem Arm.
»Die Antwort ist Ja«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Sie wollten doch wissen, ob ich Lust hätte, Ihnen morgen Moskau zu zeigen. Und die Antwort lautet Ja. Wo wohnen Sie?«
»Im Savoy.«
»Kein Moskauer Hotel ist gründlicher verwanzt.« Sie lächelte. »Ich rufe Sie morgen früh an.«
14 Nowodewitschi-Friedhof, Moskau
Sie wollte mit ihm auf einen Friedhof. Um Russland zu verstehen, so sagte sie, müsse man zuerst seine Vergangenheit kennenlernen. Und um seine Vergangenheit kennenzulernen, müsse man zwischen seinen Toten wandeln.
Gegen zehn rief sie das erste Mal im Savoy an und schlug vor, sich gegen Mittag zu treffen. Kurze Zeit später rief sie noch einmal an und sagte, aufgrund unvorhergesehener Komplikationen in der Redaktion könne sie nicht vor drei. Also spielte Gabriel die Rolle des Natan Golani und brachte einen Großteil des Tages damit zu, durch den Kreml und die Tretjakow-Galerie zu streifen. Dann, um 14.45 Uhr, stellte er sich auf die Rolltreppe der Metrostation Lubjanka und fuhr hinunter in die warme Moskauer Erde. Ein Zug wartete im trüben Licht des Bahnsteigs. Er stieg ein, als ratternd die Türen zugingen, und hielt sich an einer Haltestange fest, als der Wagen mit einem Ruck anfuhr. Sein Aufpasser vom FSB hatte den einzigen freien Sitzplatz ergattert. Er fummelte jetzt an seinem iPod, dem Statussymbol des neurussischen Mannes, und ein Großmütterchen mit schwarzem Kopftuch sah verwundert zu.
Sie fuhren sechs Stationen weit bis zur Sportivnaja. Der Beschatter trat vor ihm ins diesige Sonnenlicht und wandte sich nach links. Gabriel bog nach rechts ab und gelangte auf einen chaotischen Markt mit wackligen Verkaufsbuden und aufgebockten Tischen, auf denen sich Billigwaren aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens stapelten. Am anderen Ende des Marktes skandierten Mitglieder der Einigkeitsparteijugend Wahlkampfparolen und verteilten Flugblätter. Einer von ihnen, ein nicht mehr ganz so junger Mann Anfang dreißig, folgte Gabriel mit nur wenigen Schritten Abstand bis zum Eingang des Nowodewitschi-Friedhofs.
Auf der anderen Seite des Tors war ein kleiner Blumenladen aus rotem Backstein. Olga Suchowa wartete, einen Strauß Nelken im Arm, vor der Tür. »Sie sind überpünktlich, Mr. Golani.« Sie küsste Gabriel förmlich auf beide Wangen und lächelte freundlich. »Kommen Sie. Ich glaube, das wird Sie faszinieren.«
Sie führte ihn einen schattigen, von hohen Ulmen und Fichten gesäumten Fußweg hinauf. Auf beiden Seiten reihten sich Gräber: kleine, mit Eisenzäunen eingefasste Ruhestätten, hohe, in Stein gehauene Grabmale, mit blassem Moos bewachsene Urnenwände aus rotem Ziegelstein. Die Atmosphäre war ruhig wie in einem Park und bot Erholung von der Hektik der Stadt. Einen Augenblick lang hätte Gabriel fast vergessen, dass sie beschattet wurden.
»Früher lag der Friedhof auf dem Gelände des Nowodewitschi-Klosters, doch um 1900 befand die Kirche, dass zu viele Beerdigungen innerhalb der Klostermauern stattfanden, und so wurde dieser Platz geschaffen.« Sie sprach englisch mit ihm, wie eine Reiseführerin und so laut, dass jeder in der näheren Umgebung es hören konnte. »Wir haben nichts, was einem Nationalfriedhof näher kommt - von der Kremlmauer abgesehen, versteht sich. Dichter und Denker, Monster und Mörder, sie alle liegen hier in Nowodewitschi beisammen. Wenn die Tore geschlossen und alle Besucher fort sind, kann man sich vorstellen, worüber sie in der Nacht sprechen.« Sie blieb vor einem großen, grauen Grabmal stehen, vor dem ein Haufen verwelkter roter Rosen lag. »Mögen Sie Tschechow, Mr. Golani?«
»Wer tut das nicht?«
»Er war einer der Ersten, die hier begraben wurden.« Sie nahm ihn am Arm. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch ein paar andere.«
Sie schlenderten gemächlich den mit Laub übersäten Fußweg entlang. Auf einem Parallelweg heuchelte der Beschatter, der vorhin noch auf
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