Das Moskau-Komplott
dem Marktplatz Flugblätter verteilt hatte, lebhaftes Interesse am Grab eines berühmten russischen Mathematikers. Ein paar Schritte entfernt stand eine Frau, die sich einen beigen Anorak um die Hüfte gebunden hatte. In der rechten Hand hielt sie eine Digitalkamera, die direkt auf Gabriel und Olga gerichtet war.
»Sie werden verfolgt.« Olga warf ihm einen Seitenblick zu. »Aber ich nehme an, das wissen Sie bereits, nicht wahr, Mr. Golani? Oder soll ich Sie Mr. Allon nennen?«
»Mein Name ist Natan Golani. Ich arbeite für das israelische Kulturministerium.«
»Verzeihen Sie mir, Mr. Golani.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. Sie war leger mit einem engen, schwarzen Pullover und Jeans bekleidet. Ihr helles Haar war aus der Stirn nach hinten gekämmt und mit einer Spange im Nacken festgemacht. Ihre Wildlederstiefel ließen sie größer erscheinen als am Abend zuvor. Ihre Absätze klapperten rhythmisch über den Asphalt, während sie langsam an den Gräbern vorbeigingen.
Die Musiker Rostropowitsch und Rubinstein ...
Die Schriftsteller Gogol und Bulgakow ...
Die Parteigrößen Chruschtschow und Kossygin ...
Kaganowitsch, das stalinistische Monstrum, das während des Irrsinns der Zwangskollektivierung Millionen umgebracht hatte...
Molotow, der Unterzeichner jenes Geheimpakts, der Europa zum Krieg verdammte und die polnischen Juden der Vernichtung preisgab ...
»An keinem anderen Ort werden die eklatanten Widersprüche unserer Geschichte so deutlich wie hier. Erhabene Schönheit liegt Seite an Seite mit dem Unfassbaren. Diese Männer haben uns alles gegeben, und als sie fort waren, blieb uns nichts mehr: Fabriken, die Güter produzierten, die niemand wollte, eine Ideologie, die verbraucht und bankrott war. Alles in wohlklingenden Worten und Musik verarbeitet. «
Gabriel blickte auf den Blumenstrauß in ihrem Arm. »Für wen sind die?«
Sie blieb vor einem Grab mit einem niedrigen, schmucklosen Grabstein stehen. »Dimitri Suchow, mein Großvater. Er war Dramatiker und Filmemacher. Hätte er in einer anderen Zeit gelebt, in einem anderen System, hätte er ein Großer werden können. Stattdessen war er gezwungen, billige Parteipropaganda für die Massen zu produzieren. Er hat im Volk den Glauben an den Mythos sowjetischer Größe genährt. Zur Belohnung ist er hier begraben worden, zwischen wahrem russischem Schöpfergeist.«
Sie kauerte neben dem Grab nieder und wischte Fichtennadeln von der Gedenktafel.
»Sie tragen seinen Namen«, sagte Gabriel. »Sind Sie nicht verheiratet?«
Sie schüttelte den Kopf und legte behutsam die Blumen aufs Grab. »Ich fürchte, ich muss erst noch einen Landsmann finden, der zum Heiraten und Kinderzeugen taugt. Wenn russische Männer zu etwas Geld kommen, kaufen sie sich als Erstes eine Geliebte. Gehen Sie in irgendein modisches Sushi-Restaurant in Moskau, und Sie werden die hübschen Mädchen sehen, die aufgereiht an der Bar stehen und auf einen Mann warten, der sie flachlegt. Aber nicht auf irgendeinen Mann. Sie wollen einen Neurussen. Einen Mann mit Geld und Beziehungen. Einen Mann, der in Zermatt oder Courchevel überwintert und den Sommer in Südfrankreich verbringt. Einen Mann, der ihnen Schmuck und ausländisehe Autos schenkt. Ich verbringe meine Sommer lieber in der Datscha meines Großvaters. Ich ziehe dort Radieschen und Karotten. Ich glaube noch an mein Land. Ich muss nicht an den Tummelplätzen der Reichen in Westeuropa Urlaub machen, um als Neurussin ein zufriedenes, erfülltes Leben zu führen.«
Sie hatte zum Grab hin gesprochen. Jetzt drehte sie den Kopf und sah ihn über die Schulter hinweg an.
»Sie müssen mich für schrecklich albern halten.«
»Wieso albern?«
»Weil ich mich in einem Land, in dem es eigentlich gar keinen richtigen Journalismus mehr gibt, als Journalistin aufspiele. Weil ich mir eine Demokratie wünsche in einem Land, das sie nie kennengelernt hat - und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie kennenlernen wird.«
Sie richtete sich auf und klopfte sich den Schmutz von den Händen. »Wenn man das heutige Russland verstehen will, muss man das Trauma der Neunzigerjahre verstehen. Alles, was wir besaßen, alles, was man uns erzählt hatte, wurde hinweggefegt. Über Nacht sind wir von der Supermacht zum Sozialfall abgestürzt. Unser Volk hat seine Lebensersparnisse nicht nur einmal, sondern immer wieder verloren. Die Russen sind ein patriarchalisch geprägtes Volk. Sie glauben an die orthodoxe Kirche, den Staat, den Zaren. Mit Demokratie
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