Das Moskau-Komplott
hatte sich wenig verändert, nur dass sich auf dem Dach jetzt ein riesiger Mercedes-Stern drehte.
Gabriel warf nochmals einen überflüssigen Blick in den Stadtplan, ehe er die Moskworezkij-Brücke überquerte. Rot-schwarze Fahnen der herrschenden Russischen Einigkeitspartei hingen an den Laternenpfählen und wehten träge im warmen Wind. Hinter der Brücke lächelte der russische Präsident von einer drei Stockwerke hohen Reklametafel beklemmend auf Gabriel herab. Am Ende des Sommers musste er sich zum vierten Mal dem Votum des russischen Wählers stellen, aber über den Ausgang bestanden kaum Zweifel. Der Präsident hatte Russland längst von gefährlichen demokratischen Tendenzen gesäubert, und die Kandidaten der behördlich zugelassenen Oppositionsparteien waren wenig mehr als nützliche Idioten. Der lächelnde Mann auf der Reklametafel war in allem, nur nicht dem Namen nach, der neue Zar - und noch dazu einer mit imperialen Ambitionen.
Am anderen Flussufer lag der angenehme Stadtteil Samoskworetschje. Er war vom architektonischen Terror stalinscher Neuplanungen verschont geblieben und atmete noch etwas von der Atmosphäre des neunzehnten Jahrhunderts. Gabriel kam an verwitterten Häusern aus der Zarenzeit und Kirchen mit Zwiebeltürmen vorbei, ehe er das umfriedete Grundstück in der Bolschaja Ordinka 56 erreichte. Auf einer Tafel am Tor stand auf Englisch, Russisch und Hebräisch BOTSCHAFT ISRAELS. Gabriel hielt seinen Ausweis vor die Fischaugenlinse der Kamera, und im nächsten Augenblick hörte er, wie die elektronische Verriegelung aufschnappte. Beim Eintreten blickte er über die Schulter zurück und sah, wie ein Mann in einem Wagen auf der anderen Straßenseite eine Kamera hob und ganz offen ein Foto machte. Offensichtlich wusste der FSB von der Dinnerparty des Botschafters und beabsichtigte, die Gäste beim Kommen und Gehen einzuschüchtern.
Das Grundstück bestand aus einem engen, düsteren Hof, um den sich gesichtslose Gebäude gruppierten. Ein jugendlicher Wachmann - der gar kein Wachmann war, sondern ein Agent des Dienstes von der Moskauer Station - begrüßte Gabriel herzlich mit seinem Tarnnamen und führte ihn in das kleine Wohnhaus, in dem ein Großteil des Botschaftspersonals untergebracht war. Der Botschafter wartete auf dem Treppenabsatz im obersten Stock, als Gabriel aus dem Aufzug stieg. Als gewandter Berufsdiplomat, den Gabriel nur von Fotos kannte, schlang er die Arme um seinen Gast und gab ihm zwei donnernde Klapse zwischen die Schulterblätter, die keiner FSB-Wanze verborgen bleiben konnten. »Natan!«, brüllte er wie zu einem tauben Onkel. »Mein Gott! Bist du es wirklich? Du siehst aus, als wärst du eine Ewigkeit unterwegs gewesen. So übel kann St. Petersburg doch nicht gewesen sein.« Er drückte Gabriel ein Glas mit lauwarmem Sekt in die Hand und überließ ihn sich selbst. »Du bist wie immer der Letzte, Natan. Misch dich unters Volk. Wir unterhalten uns später, wenn du Gelegenheit hattest, allen Hallo zu sagen. Ich möchte alles über deine grässliche Konferenz erfahren.«
Gabriel setzte sein freundlichstes Diplomatenlächeln auf und trat, das Glas in der Hand, in den lärmerfüllten, verrauchten Salon.
Er machte sich mit einem berühmten Geiger bekannt, der jetzt Chef einer bunt gemischten Oppositionspartei war, die sich »Koalition für ein Freies Russland« nannte.
Dann mit einem Bühnenautor, der die altbewährte Kunst der russischen Allegorie wiederbelebt hatte, um an dem neuen System vorsichtig Kritik zu üben.
Mit einem Filmemacher, der im Westen unlängst einen bedeutenderen Menschenrechtspreis für einen Dokumentarfilm über den Gulag erhalten hatte.
Mit einer Frau, die in eine psychiatrische Anstalt gesperrt worden war, weil sie es gewagt hatte, ein Plakat mit der Forderung nach Demokratie in Russland über den Roten Platz zu tragen.
Mit einem unverbesserlichen Bolschewiken, der die einzige Möglichkeit, Russland zu retten, darin sah, die Diktatur des Proletariats wiederzuerrichten und die Oligarchen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Mit einem verknöcherten Dissidenten aus der Breschnew-Ära, der vom Beinahe-Tod auferstanden war, um einen letzten vergeblichen Kampf für die Freiheit in Russland zu fechten.
Mit einem mutigen Essayisten, der von Mitgliedern der Einigkeitsparteijugend halb totgeschlagen worden war.
Und schließlich, zehn Minuten nach seiner Ankunft, machte er sich mit einer Reporterin von der
Moskowskij Gaseta
bekannt, die nach der
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