Das Moskau-Spiel
hatten führende Genossen angedeutet, und bald wussten es alle. In diesen Monaten war Eblow fast nur noch verzweifelt, und Rachmanow verfluchte immer wieder das Pech, das sie hatten. Es durfte so nicht weitergehen. Bloß nicht Tschernenko, mit dieser Wahl würden das Politbüro und das Zentralkomitee das Sowjetreich endgültig an den Rand des Abgrunds ziehen und womöglich darüber hinaus. Aber sie würden Tschernenko zum Generalsekretär wählen.
»Und keiner traut sich zu widersprechen«, sagte Rachmanow. »Alles Waschlappen! Die Politbüromitglieder, die ZK –Abteilungsleiter, diese kleinen Pissfürsten, die Parteisekretäre der Republiken, das hochmögende Präsidium des Obersten Sowjets, die Mitglieder des Le nin’schen Zentralkomitees, so nennen sich diese Pfeifen so gern, kein bisschen Mumm in den Knochen. In was für einem Land leben wir eigentlich?«
»In der Union der sozialistischen Feiglinge.«
»Und was sind wir?«, fragte Rachmanow nach einer Weile.
»Wir sind die Bolschewiken, die ihren Plan wieder ausgraben und umsetzen.«
Schweigen. Dann Rachmanow mit Verzweiflung in der Stimme: »Das schaffen wir nie.«
»Kann sein, Roman Romanowitsch, kann sein. Aber hast du eine bessere Idee?«
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X .
Winterroth hatte ein Hundert-Gramm-Glas Wodka hinuntergestürzt, und wenn man es nicht gesehen hätte in dem Restaurant auf dem Arbat, wohin sich alle nach den Verhandlungen begeben hatten, dann hätte man es gehört. Denn die Stimme des Ingenieurgenies wurde weich, er sprach schnell und musste sich mühen, nicht zu lallen. Henri saß neben ihm, auf der anderen Seite hatte Scheffer die Dolmetscherin platziert, die sich inzwischen auch Henri als Natascha vorgestellt hatte. Henri fand den Namen viel zu russisch.
»Trinken Sie viel Wasser, ohne Kohlensäure«, sagte Henri.
Winterroth schaute ihn eine Weile an, als fürchtete er, auf den Arm genommen zu werden.
»Da wird man nicht so schnell betrunken, und am Morgen geht’s einem auch besser. Außerdem sollten Sie von dem eingelegten Fisch essen.« Er deutete aufs Büfett.
Winterroth stolperte fast auf dem Weg dorthin, nachdem Natascha ihn hatte abblitzen lassen bei der Frage, ob er ihr etwas mitbringen könne. Als Winterroth sich den Teller vollhäufte, trafen sich Henris und Nataschas Blicke, und er las darin den Wunsch, dass dieser Abend bald vorbeigehen möge. Oder dass wenigstens Winterroth ein plötzliches Verlangen spürte, ins Hotelbett zu schlüpfen. Er grinste leicht, um ihr seine Unterstützung zu zeigen. Sie lächelte knapp zurück, schaute kurz zur Decke und dann auf Winterroth, der mit seiner Beute zurückkam.
Warum fiel ihm jetzt Rachmanows Geschichte ein? Er schüttelte sie ab. Eins nach dem anderen.
Henri wollte den Typ nicht länger um sich haben, aber schließlich hatte er Scheffer versprochen, dem Herrn auf den Zahn zu fühlen. Er wusste noch nicht, wie er das tun sollte, aber vermutlich half nur die brachiale Methode.
Scheffer saß ihnen schräg gegenüber, zwischen dem Leiter und einem Mitglied der Sowjetdelegation. Er unterhielt sich mit beiden gleichzeitig, was Henri wieder die Gelegenheit gab, das kommunikative Talent und das Russisch des Kollegen zu bewundern, der da mit seiner schmächtigen Brust über der Bauchwölbung saß und mit seinen langen Armen gestikulierte, stets ein Lachen im Gesicht und mit hellwachen Augen, während hinter der Stirn sein Hirn im gewohnten Höchsttempo arbeitete und sich sein Verstand keineswegs von Launen oder Gefühlen beeindrucken ließ. Henri sah das alles, und ihm war es egal, dass der andere die Bewunderung in seinem Gesicht lesen konnte.
Winterroth zerteilte einen eingelegten Hering auf seinem Teller, obwohl sowjetische Gäste vorgeführt hatten, dass man diesen Fisch am Schwanz packte, den Kopf nach hinten legte, den Mund öffnete, um den Hering schmatzend hineingleiten zu lassen wie ein Fischreiher. Zu seiner Beunruhigung registrierte Henri, dass der Typ schon wieder ein Glas Wodka vor sich stehen hatte. Er musste sich beeilen, um seinen Job zu erledigen, bevor der Mann sich ins Delirium gesoffen hatte.
»Ich muss mich mal mit Ihnen unterhalten«, sagte Henri.
Winterroth zuckte die Achseln. »Schießen Sie los«, sagte er mit vollem Mund.
»Nicht hier. Kommen Sie mit.«
Winterroth warf Natascha einen Blick zu, aber die Dolmetscherin war mit ihrem Nachbarn auf der anderen Seite beschäftigt. Henri sah, dass Scheffer ihn undWinterroth ganz kurz musterte, um sofort zu verstehen,
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