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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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sich vor, wie es wäre, wenn er tatsächlich Beweise fände. Fotos von der Leiche, bevor sie geschminkt worden war. Ein Protokoll, das Aufschluss gab über den Zustand der Leiche und wenigstens Vermutungen über die Todesursache zuließ. Wenn er beweisen konnte, dass das Foto, das die präparierte Leiche zeigte, ein Täuschungsmanöver war, würden die Karten neu gemischt. Dann müssten die russischen Behörden eine Untersuchung einleiten, und vielleicht fand der damit beauftragte Staatsanwalt ja den Ehrgeiz, der Sache auf den Grund zu gehen. Schon während sein Hirn diese Idee formte, tat er sie als lächerlich ab. Sie würden natürlich einen Staatsanwalt nehmen, der regimetreu war, der genau das herausfinden würde, was er herausfinden sollte. Sein Mut schwand wieder.
    Er überlegte, wie es wäre, wenn er aufgäbe. Theo wusste, dass es ihn ewig plagen würde, dass er sich für einen Feigling halten würde und dass sie im Dienst hinter seinem Rücken bis zu seiner Pensionierung über ihnlästern würden. »Leichen-Theo« würden sie ihn nennen oder, subtiler, »Fotoprofi«, und was Missgunst noch so alles an Häme hervorbringen konnte.
    Und was würde der Vater über ihn denken, wenn er jetzt aufgab? Er erinnerte sich an das verrauchte Wohnzimmer, wo Henri manchmal mit Männern gesessen hatte, die so ähnlich waren wie er. Nicht dass sie ihm körperlich geähnelt hätten, Scheffer zum Beispiel war, wenn es das gab, physisch das genaue Gegenteil von Henri. Aber so, wie die sich verhielten, diese tiefernste Sachlichkeit, dieses Soldatische, die Selbstbeherrschung, die sie wie einen unsichtbaren Panzer um sich gelegt hatten, diese Bereitschaft, immer mit allem zu rechnen, die nur eine Spielart von Fatalismus war, so waren sie für den Jungen besondere Männer gewesen. Er wollte so sein wie sie, weil all ihre Eigenschaften nur konkret zeigten, was Theo schon als Überlegenheit verstand, bevor er diesen Begriff kannte. Wirklich überlegen sind nicht die Hitzigen, die Schreihälse, die Angeber, die Kraftprotze, die alle nur zeitweilig dominieren können, überlegen sind Männer, deren Tonfall sich in der bittersten Stunde um keinen Deut änderte. Das war der Kommandeur, der im Krieg seelenruhig seine Befehle erteilte, während ihm die Kugeln um den Kopf flogen. Das war der Kapitän, der auf dem sinkenden Schiff lieber ertrank, als seine Pflicht nicht bis zur letzten Minute zu tun. So einer wollte Theo immer sein, so einer war in seinen Augen Henri, und wenn man im Dienst dem Raunen zuhörte, nicht nur in seinen Augen.
    Nur, was war geschehen, dass Henri den Dienst verlassen hatte oder verlassen musste? Und warum war er so schweigsam gewesen in Sachen Scheffer? So schweigsam, dass Theo annehmen musste, er wolle etwas verbergen. Aber Henri war ihm schon immer ein Rätsel gewesen.
    Seine Gedanken schweiften zurück in die Kindheit.
    Auch wenn die Mutter sich später mühte, ihm das Gegenteil einzutrichtern, fand Theo, dass Henri trotz aller fehlenden Wärme kein schlechter Vater gewesen war. Er hatte, wenn er Zeit fand, das Männliche in seinem Sohn gesucht und gestärkt. Ihm die richtigen Geschichten vorgelesen, mit seiner rauen, manchmal fast heiseren Stimme. Die Abenteuergeschichten, die er vorgelesen hatte, verband der Junge mit dem Vater, der einem geheimnisvollen Beruf nachging, über den Theo in der Schule nicht sprechen sollte, das hatte ihm die Mutter eingeschärft, nachdem sie in einem schwachen Moment etwas von Spionage, Verrat und Staatsgeheimnissen herausgelassen hatte. Aber das war nach der Scheidung gewesen, als die Mutter oft weinen musste und auch zu viel trank. Es war ihr äußerst unangenehm, dass sie sich verplappert hatte. Mein Vater ist Beamter, sollte er sagen. Wo genau, das wisse er nicht. Er wusste es ziemlich genau, hielt aber dicht, wollte die Mutter nicht bloßstellen, das hatte sie nicht verdient. In so einer Familie lernte man zu schweigen.
    Er dachte an das letzte Gespräch mit Henri und wurde noch einmal wütend, weil der ihn hatte auflaufen lassen. Das war offensichtlich. Da hätte er nicht schweigen dürfen. Man lässt den eigenen Sohn nicht gegen die Wand laufen. Oder doch? Was wäre, wenn Henri dafür einen handfesten Grund hätte, einen Grund, der so schwerwiegend war, dass er sogar seinen Sohn in eine Falle laufen ließ? Er überlegte hin und her und fand den Gedanken überzeugend, die erste einleuchtende Erklärung für Henris Schweigen. Und in diesem Fall hatte sein Schweigen etwas

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