Das Moskau-Spiel
billigsten. Er ging ein paar Schritte, stellte sich an einen Busch, schraubte die Flasche auf, setzte sie an und nahm den Mund voll mit dem brennenden Schnaps. Er spülte wie mit Mundwasser und spuckte das meiste in den Busch. Den Rest ließ er aus den Mundwinkeln über den Hals in die Kleidung tropfen. Er hätte es wirklich gern getrunken, fand sich außerordentlich tapfer, dass er es nicht getan hatte, und schluckte zur Belohnung den schnapsversetzten Speichel hinunter. Vierzig Prozent hatte dieses Zeug nicht, sondern viel mehr, wahrscheinlich ein Schwarzgebrannter. Auf dem Etikett stand nichts außer dem Namen Petersburg. Mit der Flasche in der Hand zog er weiter.
Er begann zu torkeln, und es sah so aus, als mühte er sich, das Torkeln zu verbergen. Doch seine Darbietung als beschämter Trinker widerlegte die Flasche in der Hand, er war sichtlich auf dem besten Weg, sich für diese Nacht den Rest zu geben. So näherte er sich der Gerichtsmedizin, die in der Nacht als unbeleuchteter Zuckerbäckerklotz am Straßenrand lag, der Haupteingang mild beschienen von einer entfernten Straßenlaterne.
Auf einer Bank nahe dem Eingang beschäftigte sichein Pärchen sehr mit sich. Sie küssten sich, und er strich mit seiner Hand züchtig über ihren Hinterkopf. Sie saßen nicht sehr eng beieinander, sodass sie sich leicht zueinander beugen mussten.
Ja, dachte Theo, während er langsam vorbeiging, die Wiedergeburt der strengen orthodoxen Kirche muss die Menschen sittsam gemacht haben. Seine Hand, sogar seine, wäre bei solcher Gelegenheit längst woanders gewesen. Ein Stück weiter parkten drei Autos, ein Lada, ein BMW , ein Audi. In dem BMW in der Mitte saß jemand, das Fenster war einen Spalt geöffnet, Zigarettenrauch schwebte hinaus. Der Mann beachtete den Trinker nicht, der sich mühte, auf den Beinen zu bleiben. Fast hätte Theo das Auto angestoßen. Die nächste Seitenstraße rechts hinein, doch bevor er abbog, lehnte er sich an einen Laternenpfosten und setzte die Flasche an den Mund. So stand er eine Weile, dann betrachtete er die Flasche ganz genau, schüttelte sie ein wenig und musste sich plötzlich übergeben, mit dem Rücken zu den drei Autos. Dabei schüttete er den Rest der Flasche auf den Boden, was ihm das Entsetzen ins Gesicht trieb, als er fertig gekotzt hatte und es merkte. Er wischte sich den Mund am Ärmel ab. Dann warf er die Flasche voller Zorn klirrend auf den Bürgersteig, schimpfte lautlos mit den Splittern und zog weiter. In der Seitenstraße erkannte er fünf Lieferwagen, die hintereinander parkten. Sie trugen keine Aufschriften, was Theo ein Lächeln entlockte, das sofort wieder verschwand. Er torkelte weiter, während seine Augen alles sahen und sein Hirn alles speicherte und mit einer gewissen Verwunderung registrierte, dass sie ihn offenbar für einen Trottel hielten. »Sehr gut, Genossen«, sprach er lautlos vor sich hin.
› ‹
»Wir treffen ihn in einer speziellen Wohnung«, erklärte Rachmanow, als er mit Henri sein Büro im Rundfunkkomitee verließ. »Wir gehen was essen«, hatte er seiner Sekretärin im Vorbeigehen zugerufen, und sie, eine Frau, die man vergessen hatte, wenn man sie nicht mehr anschaute oder hörte, hatte nicht mal aufgeschaut.
Immerhin hatte Eblow ein paar belegte Brote aufgetrieben, als sie in der Küche der konspirativen Wohnung nahe des Leningrader Bahnhofs saßen. Er qualmte eine Zigarre, während er aß, die anderen begnügten sich mit den Broten.
»Wie geht’s Towaritsch?«, fragte Eblow bemüht gleichmütig.
»Ich habe ihn befördert, Ihr Einverständnis vorausgesetzt. Er ist jetzt Oberleutnant. Demnächst sollten wir mal an einen Orden denken.«
Eblow nickte. »Gerne.« Eine Pause, dann: »Er hat sich das Bein gebrochen, der Idiot. Beim Sport. Damit hätte er doch warten können, bis er in Amerika war«, sagte Eblow kauend. Seiner Ausdrucksweise nach hatte er den Schock schon einigermaßen verdaut, oder er versuchte zu verhindern, dass Henri in Panik geriet.
Aber Henri geriet nicht in Panik. Eine Stimme tief in ihm hatte schon seit Beginn ihrer wahnwitzigen Operation gesagt, dass so etwas nicht gut gehen könne. Wer das Schicksal herausfordert, wird leicht sein Opfer. Das Schicksal straft gern mit einem blöden Zufall.
»Und wenn wir es verschieben, bis der sportliche Genosse wieder gesund ist?«, fragte Henri nach kurzem Überlegen.
Eblow schüttelte den Kopf.
Rachmanow schluckte einen Bissen hinunter, blies den Zigarrenrauch von sich und sagte:
Weitere Kostenlose Bücher