Das Moskau-Spiel
ein mit Käse belegtes Brötchen und einen Becher Tee geben. Dann setzte er sich ans Fenster, beobachtete, was draußen vor sich ging, und als ihm nichts einfiel und die Brünette in der Küche verschwunden war, zog er die Akte unter seinem Hemd hervor und legte sie vor sich auf den Tisch. Theo versuchte noch einmal alles zu entziffern, was er schraffiert hatte. Das war schwierig, weil die durchgedrückten Buchstaben an manchen Stellen mit der Schrift der fünften Seite fast verschmolzen. Mit einer Lupe wäre es leichter gewesen. Er verstand auch einige Begriffe nicht, aber eines wurde ihm nach dem dritten Lesen klar: Tschernenko starb im Alter von dreiundsiebzig Jahren. Er war alt, aber keineswegs todkrank. Ganz im Gegenteil bescheinigten ihm die Ärzte eine gute Konstitution, einen wachen Geist, einen stabilen Kreislauf, prächtige Blutwerte. Grund für seine Ein lieferung ins Krankenhaus: grippaler Infekt, der aber am 9. März nach einem eher leichten Verlauf so gut wie abgeklungen war. Einer Entlassung aus dem Regie rungskrankenhaus steht nichts im Wege. Theo blätterte hastig, bis er den Totenschein gefunden hatte. Todes ursache: Herzinfarkt, verursacht durch eine Lungenthrombembolie. Er blätterte weiter und entdeckte den Abschlussbericht eines Professors Smirnow, Leiter des Regierungskrankenhauses und Mitglied des Zentralko mitees. Die gleiche Angabe zur Todesursache und der Hinweis: Eine Obduktion ist nicht erforderlich. Es war das letzte Dokument in der Akte.
Die Brünette war längst wieder aufgetaucht und schielte ab und zu Theo, aber dem war das egal. Er biss geistesabwesend in sein Brötchen. Es war trocken und wie zum Ausgleich mit zu viel Butter beschmiert.
Er blätterte noch einmal, las hier und dort, kratzte sich am Kopf, vergaß seine Magenschmerzen und seine Angst für ein paar Augenblicke und begriff, dass Konstantin Tschernenko ein ziemlich gesunder Mann gewesen war am 9. März 1985, ein paar Stunden vor seinem Tod. Und die Seite, auf der es stand, hatte das KGB aus der Akte entfernt.
Die Brünette stand plötzlich neben Theo, während der noch ganz versunken war in die Akte und gerade mal wieder das Bild von Tschernenkos Leiche betrachtete, als könnte er als Nichtmediziner irgendetwas Aufschlussreiches an ihr entdecken.
»Schmeckt es nicht?« Sie deutete auf das angebissene Brötchen.
»Doch, doch«, sagte Theo.
»Das ist doch Breschnew«, sagte sie.
»Nein, das ist er nicht.« Theo erschrak und hoffte inständig, dass sie es nicht merkte. Er schlug die Akte zu, viel zu spät.
»Darf ich noch mal schauen?« Sie sprach nun in dem Quengelton eines Mädchens, das unbedingt etwas haben will.
»Es ist mein Großvater«, sagte Theo.
Sie schaute ihm ungläubig in die Augen, schüttelte ein wenig hilflos den Kopf und zog langsam ab hinter ihren Tresen. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, und als er sah, dass sie ihr Handy am Ohr hatte, stand er auf und ging zu ihr. Er legte einen ZwanzigRubel-Schein auf den Tresen, winkte ihr kurz zu und wandte sich ab. Sie hatte ihr Gespräch unterbrochen, hielt das Handy aber noch am Ohr, und begann weiterzusprechen, als er zur Tür ging.
Draußen trieb Schnee über den Arbat.
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Der einzige Ort, an dem Henri nichts geschehen konnte, war die Botschaft. Er saß in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch, als Angela die Tür öffnete. Sie blieb eine Weile stehen und beobachtete ihn, dann bemerkte er sie, lächelte gequält und nickte.
»Was ist los? Ist Towaritsch krank?«
Nein, der war gesund und hatte seine tägliche Ration schon gefressen, gierig wie am ersten Tag, und Henri zum Dank einen Kratzer auf der Hand verpasst. Sein Fell glänzte, und er hatte jede Ängstlichkeit abgelegt, um stattdessen den Tiger zu markieren.
»Nein, dem geht’s zu gut. Ich habe ein paar Sorgen, rein beruflich.«
»Was in den Sand gesetzt?«
»So ähnlich, aber schlimmer.«
»Scheiße. Kann ich was für dich tun?«
Er schüttelte den Kopf.
»Vielleicht sollten wir uns heute Abend betrinken.«
»Das machen wir«, sagte Henri. Wie gut, dass es Angela gab. Eine Beziehung mit gutem Sex, guten Gesprächen, aber mit einem seltsamen Mangel an Leidenschaft. Henri wusste, dass ihre Beziehung beendet sein würde, wenn einer von ihnen Moskau verließ.
Als er nichts weiter gesagt und sie mit gerunzelter Stirn das Zimmer verlassen hatte, mühte sich Henri, Klarheit zu gewinnen. Er hatte sich die Amerikaner zu Feinden gemacht, besonders Mavick, und der Ehrgeizling
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