Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
Männer und Frauen, die sich in weißen Schürzen in der Küche drängten, waren allesamt davon in Anspruch genommen, die Speisen für die zahlreichen Gäste zuzubereiten, die wochentags in der Mittagspause kamen. Niemand achtete auf ihn. Das war seine Chance.
Mit vor Aufregung trockenem Mund langte der kleine, stämmige Mann mit der rechten Hand in die Schürzentasche und zog eine unscheinbare, durchsichtige Glasampulle hervor. Mit einer schnellen, entschlossenen Handbewegung öffnete er die Ampulle und schüttete die klare, farblose Flüssigkeit über den Salat, den er soeben angerichtet hatte. Danach träufelte er frisches Walnussöl-Dressing in die Schale, vermengte die Zutaten, damit die Aromen sich verbanden, und schlug schließlich an eine Glocke.
Das Läuten rief eine Kellnerin auf den Plan. »Ja, Chef?«
»Ihr Salade de Printemps für Tisch fünf«, erklärte Bratianu ausdruckslos.
Ohne ein Wort stellte sie die Salatschale auf ihr Silbertablett, nahm das Tablett und eilte durch die Schwingtüren in den eleganten Speisesaal. Der rumänische Souschef atmete erleichtert auf, als er sie verschwinden sah. Gerade hatte er weitere zwanzigtausend amerikanische Dollar verdient – steuerfreies Geld, das auf seinem privaten Bankkonto in Panama eingehen würde, sobald er seinem Führungsoffizier den neuesten Erfolg meldete. Unterdessen war eine neue tödliche HYDRA-Variante unterwegs zu ihrem Opfer.
Moskau
Der Wodootwodnyj-Kanal führt in einem großen Bogen von Ost nach West, ehe er knapp einen Kilometer südlich des Kreml wieder auf die Moskwa stößt. Der Kanal bildet die nördliche Grenze des Samoskworetsche-Viertels, das eine wachsende Zahl von Ausländern beherbergt, meist europäische und amerikanische Geschäftsleute mit ihren Familien. Das südliche Ufer des zugefrorenen Kanals säumen hellgelbe drei- und vierstöckige Gebäude. Einst als luxuriöse Stadthäuser gebaut, waren sie schon vor langer Zeit in kleinere Wohnungen unterteilt worden.
In einer dieser Wohnungen stand Lieutenant Colonel Jonathan Smith und sah aus dem Wohnzimmerfenster. Es war sehr spät, beinahe Mitternacht, und die dunklen Straßen draußen waren fast vollständig leer. Ein blauweißes Polizeiauto fuhr langsam vorbei und bog dann nach links auf eine Brücke ab, die in Richtung Kreml führte. Die roten Rücklichter verschwanden in der pechschwarzen Winternacht. Er wandte sich vom Fenster ab, ließ die schweren Vorhänge wieder zufallen und schaute Kirow fragend an. »Sind Sie überzeugt, dass diese Wohnung sicher ist?«
Der Russe zuckte die Achseln. »Absolut sicher? Nein, das kann ich nicht versprechen. Aber sie ist zweifellos der sicherste Unterschlupf, den ich in so kurzer Zeit auftreiben konnte.« Er lächelte. »Der Vermieter ist ein alter Freund von mir, ein Mann, der mir einiges schuldet – sein Leben und seine Freiheit zum Beispiel. Aber das Beste ist, dass die meisten anderen Mieter Firmenangestellte sind, die nur für die Dauer ihres Jobs hier wohnen, sodass Sie und Fiona zumindest nicht als Fremde auffallen.«
Smith nickte. Kirow hatte Recht. In einer so dicht bevölkerten Stadt wie Moskau wurden Nachbarn schnell misstrauisch, wenn sie etwas Ungewöhnliches bemerkten, und es war davon auszugehen, dass Fremde den Behörden gemeldet wurden. Doch wenn die anderen Bewohner des Mietshauses selbst erst kürzlich eingezogen
waren, erregten er und Fiona wahrscheinlich keine unerwünschte Aufmerksamkeit. »Und wie lange können wir bleiben ohne Ihnen oder Ihrem Vermieterfreund zu viele Umstände zu bereiten?«
»Bestimmt ein oder zwei Tage«, erwiderte Kirow. »Vielleicht auch länger. Danach sollte man besser eine andere Unterkunft suchen – womöglich außerhalb der Stadt.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Fiona leise. Bleich und erschöpft von dem blutigen Kampf im Rettungswagen saß sie auf dem Sofa und musterte die beiden Männer. Elena Wedenskajas Aufzeichnungen lagen vor ihr auf dem Couchtisch ausgebreitet, neben einem Notizblock, den sie und Smith benutzt hatten, um eine grobe Übersetzung des darin benutzten obskuren medizinischen Fachjargons niederzuschreiben. Diese Arbeit hatten sie unterbrochen, als der weißhaarige Russe von dem kurzen Ausflug zurückgekehrt war, bei dem er Essen, Toilettenartikel und ein paar andere notwendige Dinge erstanden hatte. Mit dem Kauf neuer Kleidung mussten sie bis zum nächsten Tag warten.
»Mit mir?« Kirow schüttelte den Kopf. »Mir droht keine echte Gefahr. Ich bin
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