Das Motel
verstehen konnte. Daraufhin drehte der Asiate sich um und antwortete ihm. Dann wandte er sich wieder Morrie zu und näherte sich im weiter.
»Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen«, sagte Morrie ernst.
Der Asiate lachte. »Wirklich sehr lustig. Aber warum hat das denn so lange gedauert?«
Morrie hielt sein Gewehr noch immer gesenkt. Seine Hand zuckte – sollte er die Waffe nicht doch besser in Anschlag bringen?
Der weiter entfernt stehende Mann nahm seine Sonnenbrille ab. Morrie sah zu ihm hinüber und warf einen kurzen Blick auf sein Gesicht, schaute dann aber schnell wieder zu dem näher kommenden Asiaten zurück.
»Halt!«, bellte Morrie.
Der Asiate hob seine Hände. »Hey, alles cool.« Er kicherte. Dann ließ er seinen rechten Arm wieder sinken und fasste in sein Jackett.
Oh, mein Gott, schrie etwas in Morries Kopf.
Bevor er es sich noch einmal überlegte, riss Morrie das Gewehr hoch, zielte auf die Brust des Asiaten und drückte ab.
Der laute Knall schickte sein Echo in die stille Nacht, und Morrie sah, wie der Asiate nach hinten kippte. Hinter sich hörte er Judy aufschreien, feuerte noch einmal und traf den Asiaten knapp oberhalb der ersten Einschusswunde.
Morrie konnte das Blut spritzen sehen. Im Dunkel der Nacht wirkte es wie schwarzes Öl.
Der Asiate gab keinen Laut von sich.
Er fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Morrie hörte, wie er keuchte und röchelte.
Dann war alles still.
Judy hatte aufgehört zu schreien und mit den Rauchwolken des Mündungsfeuers verschwand auch der letzte Nachhall der Explosion.
Das Gewehr noch immer erhoben, blickte Morrie auf den toten Asiaten hinunter.
Er schaute nur deshalb zur Seite, weil er aus dem Augenwinkel die raschen Bewegungen des anderen Mannes wahrnahm, der in Richtung der Straße rannte.
Erschieß ihn. Sollte ich ihn auch erschießen?
Er legte seinen Finger um den Abzug, aber bevor er auf den fliehenden Mann schießen konnte, war dieser bereits verschwunden.
Morrie blieb eine gefühlte Ewigkeit regungslos an derselben Stelle stehen. Als Judy ihm eine Hand auf den Rücken legte, schnappte er nach Luft und wirbelte herum.
»Ich bin’s nur«, sagte sie leise. »Musstest du ihn denn gleich erschießen?«
Morrie starrte sie mit leerem Ausdruck an. »Er hat nach seiner Waffe gegriffen.«
»Oh, mein Gott.« Sie schnappte nach Luft. »Die wollten uns umbringen? Wer waren die?«
Morrie spürte, wie er den Kopf schüttelte. Er drehte sich um und ging zu der Leiche hinüber. Judy blieb in der Nähe der Tür stehen und beobachtete ihn.
Er schaute auf den leblosen Körper des Asiaten hinunter. Unter dem schwarzen Jackett trug er ein weißes Hemd und die beiden kleinen Einschusslöcher in seiner Brust waren so wenig zu übersehen wie ein Haufen Scheiße in einem Blumenladen. Aus beiden Wunden sickerte Blut. Das Gras unter dem Mann war erheblich dunkler als der Rest des Rasens.
Morrie ging in die Hocke.
»Fass ihn nicht an«, rief Judy mit tränenerstickter Stimme.
Als er neben der Leiche kniete, konnte Morrie zum ersten Mal die Augen des Asiaten erkennen.
Irgendwann, entweder als ihn die Schüsse getroffen hatten oder als er zu Boden gefallen war, musste er seine Sonnenbrille verloren haben, ebenso wie seinen Hut. Ausgestreckt, mit offenen Augen lag der Asiate auf dem feuchten Gras. Augen konnten viel über einen Menschen verraten.
Die Leiche, die in Morries Vorgarten lag, sah nicht älter aus als 18 Jahre.
»Mein Gott«, seufzte Morrie. »Ich hab ein Kind erschossen.«
Trotzdem, ob Kind oder nicht, der Junge hatte vorgehabt, ihn und Judy zu erschießen.
Ich musste es tun, dachte er. Ich musste ihn erschießen.
Morrie schaute zur rechten Hand des Jungen hinüber und auf den Gegenstand, den seine Finger umklammert hielten. »Oh, nein«, stöhnte er. Er erhob sich und machte einen Schritt neben die Hand. Dann ging Morrie erneut in die Hocke und starrte auf das Stück Papier, das zwischen Daumen und Zeigefinger des Jungen steckte.
Selbst im fahlen Licht erkannte Morrie, was es war.
Eine Einladung zu einer Halloweenparty. Er konnte Zeit und Datum lesen, aber nicht die Adresse. Auch konnte er die grinsenden Totenschädel ausmachen, die als Rahmen auf dem rechteckigen Stück Papier aufgedruckt waren.
Morrie rannte zurück zu Judy. »Wir müssen von hier verschwinden.«
Er sah das Entsetzen in ihren Augen. »Was? Wieso rufen wir denn nicht die Polizei? Es war schließlich Notwehr.«
Morrie schüttelte den Kopf. »Er war noch ein Kind, Judy.
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