Das Motel
Nacht war kühl und normalerweise hätte sie Harry hereingebeten. Aber heute Abend sah sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Abgesehen von Harrys traurigem Gesicht, konnte sie auch nirgendwo eine Spur von Jack erkennen.
»Was ist denn hier los, Schätzchen? Was ist passiert?«
Plötzlich stürzte sich Harry in Madges Arme und begann zu weinen. Sie erschrak ein wenig, legte ihre Arme aber dennoch um den Jungen. »Nun komm. Es ist ja gut.«
Scheiße, nichts ist gut. Wo zur Hölle ist Jack?!
Ihr Magen flatterte. Sie wusste, dass irgendetwas überhaupt nicht in Ordnung war – auch wenn man kein Genie sein musste, um das zu bemerken.
Davon abgesehen spürte sie aber auch noch etwas Tieferes, einen Schmerz in ihrem Herzen, der beinahe zu ihr sprach. Irgendetwas war mit ihrem Mann passiert.
»Schhh, nun komm. Erzähl mir erst mal, was passiert ist.« Sie schob Harry sanft von sich. Er schaute sie an. Seine Augen waren furchtbar verquollen und rot und die Tränen hatten graue Linien auf sein Gesicht gemalt.
»Es gab ei… ei… eine Messerstecherei. Auf der Wache. Er war ver… verrückt.« Er schniefte einen langen Rotzfaden wieder seine Nase hinauf und wischte sich mit seinem Handrücken die Augen.
Eine Messerstecherei?
Madge spürte, dass sie Gefahr lief, den Verstand zu verlieren. Sie fühlte sich ein wenig schwindelig und musste einen Augenblick warten, bevor sie ihre Frage stellen konnte: »Wo ist Jack?«, hörte sie dann ihre zitternde, schrille Stimme.
Bitte sag, dass er im Krankenhaus ist. Er ist verletzt, aber er ist noch am Leben …
Harry brach zusammen und begann, wie ein verängstigter kleiner Junge zu schluchzen. Tränen rannen über seine Wangen und vereinigten sich mit dem Rotz, der aus seiner Nase triefte. »Jack ist tot. Es tut mir so leid.« Seine Schultern bewegten sich zitternd auf und ab.
Ein Schrei zerriss Madges Kehle.
Zehn Minuten später saß Madge auf der Couch, als es an der Tür klingelte. Sie wiegte eine Tasse Kräutertee in der Hand, den Harry für sie gemacht hatte, aber sie hatte noch keinen einzigen Schluck davon getrunken. Durch den ständigen Tränenfluss brannten ihre Augen und auch wenn sie nicht unter Schock stand, fühlte sie sich irgendwie seltsam, so als befände sie sich außerhalb ihres Körpers.
Jack kann nicht tot sein. Das kann einfach nicht sein. Nicht mein Jack. Nicht mein Jack …
Das Geräusch der Vordertür, die geöffnet wurde, dröhnte seltsam in ihrem Kopf und es folgte der tiefe, ruhige Klang von Männerstimmen, die sich unterhielten.
Kurz darauf kam Harry ins Wohnzimmer. »Äh, Madge. Es ist Sergeant MacDonald. Er möchte nur mal sehen, wie’s dir geht. Soll ich ihn reinlassen?«
Madge schaute auf, aber bevor sie antworten konnte, tauchte Jason bereits hinter Harry auf. »Hi, Madge. Es tut mir … so leid.«
Madge streckte den Arm mit dem lauwarmen Tee aus. »Könntest du den bitte in die Küche zurückbringen, Harry? Er ist kalt.«
Harry machte ein paar Schritte auf sie zu und nahm ihr die Tasse aus der Hand. »Möchtest du, dass ich dir einen neuen mache?«
Sie wischte sich über die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Aber nimm dir einfach, was du möchtest. Tee und Kaffee sind im Schra…«
»Es ist schon gut, Madge. Ruh dich einfach aus.« Harry verschwand mit der Tasse in der Küche.
Madge senkte den Kopf und weinte.
»Hey, es ist ja gut. Ich bin hier. Es wird alles wieder gut.«
Sie hatte nicht gehört, wie Jason zu ihr herübergekommen war und sich neben sie gesetzt hatte, aber das musste er getan haben, denn nun legte er seinen Arm um ihre Schultern.
Das war jedoch das Letzte, was sie wollte. Er war der letzte Mensch, den sie in ihrer Nähe haben wollte. Tatsächlich hatte sie mit einem ihrer wenigen zusammenhängenden Gedanken, zu denen sie seit der herzzerreißenden Nachricht imstande gewesen war, beschlossen, dass sie ihn nicht mehr treffen wollte. Sie verachtete ihn oder genauer gesagt das, wofür er stand.
»Bitte geh«, flüsterte sie.
»Madge?«
»Ich hab gesagt, dass ich dich hier nicht haben möchte. Bitte.«
Jasons Arm fiel von ihren Schultern. »Aber … Komm schon, Liebling. Du kannst heute Nacht nicht alleine sein.«
»Harry kann hierbleiben«, presste sie zwischen zwei Schluchzern hervor. »Ich … Ich will dich nicht mehr sehen, Jason. Und nenn mich nicht Liebling.«
»Wenn du willst, dass ich gehe, dann gehe ich«, erwiderte Jason kalt. »Aber sag keine Dinge, die du nicht so meinst, Madge. Ich
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