Das München-Komplott
Landstriches völlig ohne Humor war. Früher war er Abteilungsleiter der einflussreichen Abteilung ÖS (Öffentliche Sicherheit) gewesen, bevor er ins Kanzleramt, dann zum BND und nun zurück ins Ministerium wechselte. Alles an ihm wirkte zugeknöpft und hochgeschlossen. Er war lang und dünn, trug stets graue Anzüge. Seine Augen erinnerten Charlotte an einen Habicht, wahrscheinlich hatten sie noch nie Mitgefühl ausgedrückt oder Anteilnahme. Man konnte es sich jedenfalls nicht vorstellen. Ihre Sekretärin hatte ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass die weiblichen Angestellten es vermieden, mit Dr. Huber zusammen den Aufzug zu benutzen. Und sie hätten Gründe, sagte sie, denn ihr sei es auch einmal passiert, und dann lachte sie bitter: Huber sei ein widerlicher Tittengrapscher.
Sein engster Vertrauter war der jetzige Abteilungsleiter ÖS, Ministerialdirigent Dr. Schönleber, den Charlotte schon allein wegen seines übertriebenen Parfümgebrauchs abstoßend fand.
Beide, Huber und Schönleber, hatten sich einen Ruf als harte Hunde erarbeitet, beide wirkten auf Charlotte wie von einer ihr unbekannten Energie getrieben, keiner guten Energie. Etwas Böses ging von ihnen aus, aber Charlotte verstand nie genau, was der eigentliche Grund ihrer Humorlosigkeit und Kälte war. Sie hoffte nur, dass sie die beiden niemals zum Feind haben würde.
Dr. Huber erhob sich: »Die jetzige wirtschaftliche Krise, Frau Kollegin, meine Herren, wird einerseits als historisch verzeichnet, andererseits wird sie in der öffentlichen Darstellung der Bundesregierung weiterhin als bloße zyklische Krise dargestellt, die schon bald, etwa im Laufe des Jahres 2010 oder spätestens 2011, wieder überwunden seinwird. Diese Darstellung ist verständlich, weil auf einem anderen Wege die erheblichen finanziellen Mittel für die staatlichen Konjunkturprogramme nicht begründet werden könnten.
Sehr viel wahrscheinlicher – auf jeden Fall möglich – ist jedoch, dass die Kettenreaktionen der Weltwirtschaftskrise nicht vor einem Stillstand stehen, sondern gerade erst begonnen haben. Wir wissen nicht, wann die Blase der amerikanisch-asiatischen Defizitwirtschaft platzt und welche Folgen sie für die Weltwirtschaft haben wird. Das Bundesministerium für Finanzen erwägt eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf etwa 25 Prozent einige Monate nach den nächsten Bundestagswahlen. Dies wird erheblichen öffentlichen Protest hervorrufen, und die linken Agitatoren werden behaupten, dass die Folgen der Bankenkrise nun direkt vom kleinen Mann bezahlt werden müssen. Wir rechnen außerdem im Gefolge der Krise mit einem weiteren drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit, und wir wissen, dass dieser Anstieg von den sozialen Netzen nicht mehr aufgefangen wird. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales arbeitet bereits an Plänen für eine soziale Notstandsverwaltung, die alles bisher Bekannte in den Schatten stellen wird.«
Charlotte war nicht klar, auf was das Ganze hinauslaufen sollte. Aber sie mochte den Ton in Hubers Stimme nicht, der jetzt noch schärfer wurde.
»Wie wird in einem solchen Szenario die öffentliche Ordnung beibehalten? Das ist die Frage, die sich unserem Ministerium stellt. Welche Gefahren gehen von einer Lazarusschicht aus, die mit öffentlichen Suppenküchen vor dem Verhungern gerettet wird? Welche Einsatzkräfte brauchen wir, um diese Schicht in Schach zu halten? Ferner: Wie wird sich die Mittelschicht verhalten, die jetzt noch mit einigen Ersparnissen oder Erbschaften hofft, durchzukommen. Die Erfahrung lehrt, dass aus dieser Schicht die neuen Anführereiner möglichen Revolte hervorgehen. Deshalb ist die Überwachung der E-Mail- sowie der gesamten Internet-Kommunikation so wichtig. In der nächsten Legislaturperiode müssen wir an diesen Punkt größere Fortschritte machen.
Wir alle, Sie und ich, wir alle hoffen, dass es nicht zum Äußersten kommt. Aber damit es nicht dazu kommt, müssen wir mit unseren Planungen auf den äußersten Fall vorbereitet sein.
Sehen Sie: Wir haben bereits jetzt, im Mai 2009, so viel Streiktage wie im ganzen Jahr 2008 zusammengenommen, nämlich über 420 000. Im letzten Jahr aber waren bereits mehr Personen in Streiks verwickelt als im Katastrophenjahr 1968. Neu und besorgniserregend sind zwei weitere Umstände: Es sind die Belegschaften großer Firmen betroffen, aber auch Sektoren, die noch nie in Arbeitskämpfe einbezogen waren und eigentlich als immunisiert galten. Als Beispiel
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