Das Multiversum 1 Zeit
manchmal die Lichter auf der Nachtseite.«
»Was glaubst du, was sie darstellen?«
Anna zuckte die Achseln. »Brennende Städte.«
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Maura seufzte. »Hast du dich mit Geschichte beschäftigt, Anna?«
»Ja. Die Informationen sind beschränkt, die Deutungen unvollständig. Aber es ist trotzdem interessant.«
»Dann wirst du auch wissen, dass es solche Zeiten früher schon gegeben hat. Zum Beispiel die Religionskriege während der Reformation. Protestanten gegen Katholiken. Die Katholiken glaubten, dass allein ihre Priester den Zugang zum Leben nach dem Tod kontrollierten. Also wurde jedem, der ihre Macht bedrohte, nicht nur das Leben genommen, sondern auch das Leben nach dem Tod. Und die Protestanten glaubten, dass die katholischen Priester falsch wären und verwehrten deshalb deren Anhängern den Zugang zum Leben nach dem Tod. Wenn man es vom Standpunkt der jeweiligen Protagonisten betrachtet, gab es triftige Gründe für den Krieg, weil es schließlich um das Leben nach dem Tod ging.«
»Haben die heutigen Kriege auch religiöse Gründe?«
»In gewisser Weise ja. Aber es geht dabei um die Zukunft. Es gibt verschiedene Gruppen, die glauben, dass sie das Recht hätten, die Zukunft der Menschheit zu bestimmen – die wir zum ersten Mal in der Geschichte als ein konkretes Ding begreifen, einen Ak-tivposten, um den gestritten wird. Und genau darum kämpfen sie.«
»Sie meinen, dass sie um die Kinder kämpfen. Blaue Kinder wie mich und darum, was wir ihnen ihrer Meinung nach bieten können.«
»Ja«, sagte Maura.
»Da liegen Sie falsch«, sagte Anna. »Alle miteinander.«
»Nun zum Kern der Sache«, sagte Maura. »Ich weiß nicht, wie lange … hmm … kluge Köpfe noch die Oberhand behalten. Auch in den USA.«
»Wie lang noch?« fragte Anna leise.
»Ich weiß es nicht«, sagte Maura aufrichtig. »Höchstens noch ein paar Monate, glaube ich. Dann werden sie euch holen kommen.«
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»Das wird reichen«, sagte Anna.
»Wofür?«
Anna antwortete nicht.
»Ihr macht den Leuten Angst, Anna«, brach es aus Maura heraus. »Mein Gott, mir macht ihr auch Angst. Ihr sitzt hier auf dem Mond rum mit euren Plänen und eurer unbegreiflichen Wissenschaft. Wir haben das Artefakt im Mondmantel entdeckt…«
Es war von Seismographen aufgespürt worden. Ein Brocken aus hoch verdichteter Materie – möglicherweise Quark-Materie – von der Größe eines Bergs. Niemand hatte eine Ahnung, wie er dorthin gelangt war und welchem Zweck er diente.
Maura schaute Anna finster an. »Haben wir denn Grund zur Angst?«
»Ja«, sagte Anna sanft, und Maura lief es kalt den Rücken hinunter.
»Wieso sagt ihr uns nicht, was ihr vor habt?«
»Wir versuchen es doch. Wir sagen euch alles, was ihr versteht.«
»Wird es uns gelingen, euch aufzuhalten?«
Anna ergriff Mauras Hand und drückte sie. Die Haut des Mädchens war weich und warm. »Es tut mir Leid, nein.«
Dann kippte Anna plötzlich nach vorn, fiel vom Baum und breitete die Schwingen aus. Sie schwang sich in die Luft, flog am verzerrten Antlitz der Erde vorbei und verschwand aus Mauras Augen.
■
Als Maura zur Zugmaschine zurückkehrte, wartete Bill auf sie. Er heuchelte Desinteresse. Während der Bus jedoch zur NASA-Basis zurückkroch, sog er jedes Wort ein, das sie ihm über die Bedin-586
gungen im Innern der Kuppel zu erzählen hatte, über die Kinder im Allgemeinen und Tom und Billie im Besonderen.
Die Sonne war hinter den Wällen von Tycho untergegangen, aber die Kraterwände glühten im unheimlichen Blau des Erd-Lichts. Die Sonne würde sich für einen ganzen Tag dicht unter dem schroffen Horizont verstecken, so träge war der Zeitzyklus des Monds. Wegen der nicht vorhandenen Luft fehlten natürlich auch die Farben des Sonnenuntergangs; und trotzdem war ein Glühen am Horizont, fahle weiße Finger, die immerhin hell genug waren, um die Sterne zu überblenden. Sie sah das Licht der Son-nenatmosphäre und das Zodiakalllicht, den von der Sonne angestrahlten Staub und Schutt in der Ekliptik. Es war ruhig, stetig und unerträglich still – ein Gletscher aus Licht.
Sie sah, dass Bill Tybee weinte.
Er ließ es zu, dass sie ihn hielt wie eine Mutter ihr Kind. Es war ein großer Trost, diese Spur menschlicher Wärme vor der Kälte des Monds.
Reid Malenfant:
Das Anzugsfunkgerät funktionierte nur über kurze Distanzen.
Trotzdem suchte er die Frequenzbänder ab.
Nichts. Aber das wollte nichts heißen.
Auch wenn er niemanden hörte, vielleicht hörte jemand ihn. Der
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