Das Multiversum 2 Raum
geformt worden war und nicht von westlichen Landschaftsgärtnern.
Ben schien den Spaziergang richtig zu genießen. Er drückte die Beine durch und hakte die Daumen in die Rucksackgurte.
»Australien ist ein Ort für Läufer«, sagte er. »Dafür sind wir Menschen geschaffen. Schau dir mal bewusst deinen Körper an.
Jedes Detail, von den langen Beinen bis zum senkrechten Rückgrat ist für lange Wanderungen durch unwegsames Gelände, Wüsten und Buschland geschaffen. Australien ist das Land, für das wir uns entwickelt haben.«
»Dann haben wir uns also zu Flüchtlingen entwickelt«, sagte Madeleine verdrießlich.
»Wenn du so willst. Und in Anbetracht der Horden, die entlang des Spiralarms unterwegs sind, ist das vielleicht sogar ein Vorteil.
Was meinst du?«
Gehen, sagte er, sei die Grundlage der Traumzeit, der Schöp-fungsgeschichte der Aborigines.
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»Im Anfang war der Lehm. Und die Vorfahren formten sich aus dem Lehm – Tausende von ihnen, einer für jede totemische Spezies … Jeder totemische Vorfahr bereiste das Land und hinterließ neben seinen Fußspuren eine Spur aus Worten und Musik. Und diese Spuren dienten als Mittel der Verständigung selbst zwischen den entferntesten Stämmen.«
Madeleine hatte schon davon gehört. »Die Lied-Linien.«
»Wir bezeichnen sie als ›Die Fußspuren der Ahnen‹. Und der Kanon aus Wissen und Gesetzen wird Tjukurpa genannt … Aber es stimmt. Das ganze Land gleicht einem Musikstück. Es gibt kaum einen Felsen oder einen Bach, der nicht besungen wurde. Mein ›Clan‹ ist nicht mein Stamm, aber das Volk meines Traums, ob auf dieser Seite des Kontinents oder der anderen; mein ›Land‹ ist keine eingegrenzte Parzelle, sondern ein Handelsweg, ein Mittel der Verständigung.
Die Haupt-Liedlinien scheinen im Norden oder Nordwesten Australiens zu entspringen, vielleicht an der Torres Strait und winden sich südwärts durch den Kontinent. Vielleicht bilden sie die Routen der ersten Australier überhaupt ab, die über die schmale eis-zeitliche Meerenge aus Asien kamen. Dadurch würden die Bruchstücke der Linien sich viel weiter zurückerstrecken, über hunderttausend Jahre durch Asien bis nach Afrika.«
»Von Afrika nach Triton«, sagte sie.
»Ja. Wo das Land noch unbesungen ist.«
Sie stiegen noch höher durch Inseln des struppigen gelb-weißen Grases, das den Namen Spinifex trug. Sie streckte die Hand nach einem Büschel aus und berührte es, ohne etwas zu spüren. Ben riss ihre Hand zurück. Sie sah Stacheln in der Hand stecken.
Er zog die Stacheln heraus. »Alles hier hat Stacheln. Alles versucht zu überleben und seine Wasservorräte zu schützen. Vergiss das nicht … Schau.«
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Ein Rascheln ertönte. Ein Känguruweibchen mit einer Schar Jungen hatte die Deckung einiger Büsche verlassen.
Die Kängurus sahen aus wie riesige Mäuse, mit Gesichtern wie Nagetiere und dickem Fell. Sie waren plump, aber stark. Die wei-
ßen Fußsohlen kontrastierten mit dem roten Staub. Als das große Weibchen sich bewegte, tat es das in einer Art und Weise, wie Madeleine es noch nie gesehen hatte. Es nutzte den Schwanz und die Arme als Steuerung und stieß sich mit den kräftigen Beinen ab.
Da war ein Jungtier im Beutel – nein, Ben sagte, es sei ein joey –, das neugierig den Kopf herausstreckte und am Spinifex knabberte, während die Mutter sich fortbewegte.
Aus der Nähe muteten die Tiere Madeleine extrem fremdartig an: Exemplare eines anderen biologischen Entwurfs, als ob es sie auf eine andere Welt verschlagen hätte. Die Chaera sind auch nicht viel exotischer, sagte sie sich.
Irgendetwas schreckte die Kängurus auf. Sie hüpften in weiten Sätzen davon.
Madeleine grinste. »Mein erstes Känguru.«
»Du verstehst nicht«, sagte Ben mit belegter Stimme. »Ich glaube, das war ein Procoptodon. Ein Riesenkänguru. Sie werden bis zu drei Meter hoch …«
Madeleine kannte sich mit Kängurus nicht aus. »Und das ist ungewöhnlich?«
»Madeleine, das Procoptodon ist seit zehntausend Jahren ausgestorben. Deshalb ist es ungewöhnlich.«
Sie entfernten sich immer weiter vom Fahrzeug und tranken Wasser aus Feldflaschen.
»Das sind die Gaijin«, sagte er. »Natürlich sind das die Gaijin.
Sie rekonstruieren die hiesige Megafauna, die längst ausgestorben ist. Es ist auch schon eine wanabe gesichtet worden, eine einen Meter durchmessende und sieben Meter lange Schlange und ein flü-
gelloser Vogel namens genyornis mit der doppelten Masse eines 276
Emus. Die Gaijin
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