Das Multiversum 2 Raum
Tunnelwänden.
Das Material hinter den Wänden wurde glatt und grau. Das war das Urgestein des Monds, Anorthosit, dem nicht einmal die wuchtigen Einschläge der großen Kometen und Asteroiden etwas anzu-haben vermocht hatten. Sie wusste, dass es, anders als auf der Er-de, hier keine Fossilien gab, keine Überreste von Leben in diesen tiefen Schichten – nur glatte Übergänge zwischen Mineralien, die durchs langsame Wirken der Geologie entstanden waren. An manchen Stellen zweigten Nebenstollen vom Haupttunnel ab. Sie führten zu Abbauorten, Flözen aus magnesiumhaltigem Gestein, das aus dem Innern des Monds gefördert und von Franks Geschäfts-partnern abgebaut wurde. Sie nahm die Arbeitsvorgänge schemenhaft wahr; sie huschten an ihr vorbei, während sie fiel, und waren wie Traumbilder verschwunden.
Trotz der ständig steigenden Temperatur im Tunnel und der Beschleunigung verspürte sie ein Gefühl der Kälte, des Alters und der Ruhe.
Sie fielen durch einen überraschend scharfen Übergang in ein neues Reich, wo das Gestein hinter den Wänden in einem inneren Licht glühte. Es war grau-rot wie erkaltende Lava auf der Erde.
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»Der Mantel des Monds«, flüsterte Frank und ergriff ihre Hände.
»Basalt. Hier oben ist es nicht so schlimm. Weiter unten wird das Gestein aber so weich, dass man das Gefühl hat, in Gummi zu bohren. Tausend Kilometer Knetmasse. Das ist eine richtige Schei-
ße.«
Sie kamen an einer Stelle vorbei, wo die Glaswände mit einer Gravur versehen waren: Stilisierte Blumen mit großen Blütenblättern. Hier war die Technikerin bei einer Implosion ums Leben gekommen. Das kleine Denkmal schoss in die Höhe und war im Licht verschwunden. Frank gab keinen Kommentar dazu ab.
Das an ihnen vorbeifliegende Gestein glühte nun in einem hellen Kirschrot. Es war, als ob sie durch ein großes, mit fluoreszie-rendem Gas gefülltes Glasrohr gefallen wären. Xenia spürte die Wärme trotz der Anzugsisolierung und der Kühlung des Tunnels.
Der Fall schien nicht enden zu wollen.
Sie waren von dicken Leitungen umgeben, die an Halterungen durch den Tunnel liefen. Die Leitungen führten Wasser, die die Wärme des Mondinnern zu den Hydrothermal-Kraftwerken an der Oberfläche transportierten. Sie wurde schier geblendet vom rosig-weißen Leuchten des Gesteins.
Das Gurtzeug riss heftig an ihr und bremste sie ab. Sie schaute abwärts durch den Röhrenwald und sah, dass sie sich einem End-punkt näherten, einer Plattform aus einer trüben, milchigen Keramik, die den Tunnel abschloss.
»Endstation«, sagte Frank. »Weiter unten gibt es nur noch die Schrämm-Maschinen, die Röhrenmaschine und anderen Kram …
Weißt du eigentlich, wo du hier bist? Xenia, wir sind über tausend Kilometer tief und haben zwei Drittel des Wegs bis zum Mittelpunkt des Monds zurückgelegt.«
Die Bremswirkung der Führungsrollen verstärkte sich. Sie wurden langsamer und kamen ein paar Meter über der Plattform zum Stillstand. Mit Franks Hilfe entledigte sie sich des Gurtzeugs und 367
sprang auf die Plattform hinab, wo sie wie bei einer Fallschirmlan-dung mit beiden Füßen aufkam.
Sie schaute auf die Chronometeranzeige. Der Abstieg hatte zwanzig Minuten gedauert.
Nachdem sie die Balance gefunden hatte, ließ sie den Blick schweifen. Sie waren allein.
Die Plattform war mit wissenschaftlicher Ausrüstung in Form anonymer grauer Kästen übersät, die durch Kabel mit Softscreens und Akkus verbunden waren. In Kühlmäntel gepackte Sensoren und Sonden waren an Buchsen in den Wänden angeschlossen. Sie sah gesammelte Daten übers Mondmaterial über die Softscreens wandern: Messungen der Porosität und Permeabilität, Daten von Gasspektrometern und Manometern, von Dynamometern und Gravimetern. Es gab hier auch Hinweise auf Arbeitsplätze in Gestalt kleiner aufblasbarer Zelte, Rückentornister und Notizblöcken – sogar einer Kaffeetasse, die hier völlig fehl am Platz wirkte.
Menschliche Spuren im Mittelpunkt des Mondes.
Mit leichten Schritten, beinahe schwebend ging sie zur Wand.
Hinter den fensterartigen Wänden erstreckte sich nacktes, rosig glühendes Gestein.
»Das tiefe Innere des Mondes besteht aus etwas, das die Felsen-ratten als primitives Material bezeichnen«, sagte Frank und trat neben sie. Er fuhr mit der behandschuhten Hand übers Glas. »Es stammt noch aus der Zeit der Entstehung des Sonnensystems. Ist nie geschmolzen und differenziert worden wie der Mantel, nie bombardiert worden wie die Oberfläche. Unberührt,
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