Das Multiversum 2 Raum
diese Forscher, die nun lange tot sind, wussten natürlich nicht, was sie da gefunden hatten. Die Überreste wurden unter Schichten aus Regolith begraben. Ein paar von ihnen waren Milliarden Jahre alt.« Er seufzte. »Das Bild ist lü-
ckenhaft. Trotzdem ist es mir gelungen, ein Muster zu rekonstruieren.«
»Was für ein Muster?«
»Es stimmt, dass das letzte Saat-Ereignis die Kapseln mit absoluter Präzision an diesen Ort zurückbefördert hat. Wie Sie beobachtet haben. Die Kapseln wurden von der Struktur dieser Primär-pflanze absorbiert, die seitdem verwelkt ist. Die Aussaat wurde offensichtlich durch das Erscheinen des Kometen ausgelöst, der den Mond vorübergehend in eine neue Atmosphäre hüllte. Aber ich habe auch die Muster früherer Aussaaten untersucht …«
»Die durch frühere Kometeneinschläge ausgelöst wurden.«
»Ja. Alle erfolgten sie, lang bevor die Menschen den Mond besiedelten. Es waren nur ein paar Einschläge in einer Milliarde Jahre.
Ein kurzer Kometenregen und Luftschwaden, ehe der lange Winter wieder einsetzte. Und jeder Einschlag hat ein Saat-Ereignis ausgelöst.«
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»Aha. Ich verstehe. Sie sind wie Wüstenblumen, die in der kurzen Regenzeit erblühen. Mohnblumen, Zistrosen, Gräser, chenopo-des.«
»Genau. Sie durchlaufen schnell ihren Lebenszyklus und verbreiten sich möglichst weit, solang die Kometenluft noch Bestand hat.
Und dann schlafen die Samen und warten auf das nächste Ereignis, das vielleicht erst wieder in einer Milliarde Jahren eintritt.«
»Ich stelle mir vor, dass sie sich über den ganzen Mond auszubreiten versuchen. So schnell und so weit wie möglich.«
»Nein«, sagte er.
»Was dann?«
»Bei jedem Kometenereignis vereinigen die Sämlinge sich. Genauso, wie sie es hier getan haben. Diese Pflanzen arbeiten sich zu-rück, Xenia.
Vor einer Milliarde Jahren gab es Tausende solcher Orte. In einer großen Aussaat verringerten sie sich auf hundert: Diese paar Glücklichen wurden mit Samen überhäuft, während die Erzeuger verwelkten. Und bei der nächsten Aussaat wurden diese hundert auf ein Dutzend oder so reduziert. Und zum Schluss wurden aus dem Dutzend Blumen eine. Diese hier.«
Sie versuchte, das zu rekapitulieren und stellte sich vor, wie die kleinen Samenkapseln sich vereinigten und immer weniger wurden. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Nicht für uns, die wir Botschafter der Erde sind«, sagte er. »Irdisches Leben breitet sich aus, wann immer und wo immer es die Möglichkeit dazu hat. Doch das hier ist Mond-Leben, Xenia. Und der Mond ist eine alte, erkaltende und sterbende Welt. Seine besten Zeiten waren flüchtige Momente weit in der Vergangenheit.
Also hat das Leben sich an die Umstände angepasst. Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon. Aber ist das wirklich die letzte von ihnen?
Das Ende?«
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»Ja. Die Blume liegt im Sterben.«
»Aber wieso gerade hier und jetzt?«
Er zuckte die Achseln. »Xenia, Ihr Kollege Frank Paulis ist entschlossen, den Mond innen und außen umzukrempeln. Selbst wenn er scheitert, werden andere dort weitermachen, wo er aufgehört hat. Die Stille des Mondes ist verloren.« Er schniefte. »Mein Garten wird vielleicht überdauern, aber in einem Park, und er wird wie Ihre alten Apollo-Landefähren von Touristen angegafft werden. Das ist ein – Verlust. Mit den Blumen ist es das Gleiche.
Auf dem neuen Mond, in unsrer Zukunft sind sie nicht überlebensfähig.«
»Aber woher wollen Sie denn wissen, dass sie nicht zu überleben vermögen? Ach, das ist die falsche Frage. Die Blumen sind schließ-
lich nicht intelligent.«
Er musterte sie. »Sind Sie sicher?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wir sind intelligent und aggressiv. Wir glauben, dass Intelligenz aus Aggression entsteht. Vielleicht stimmt das sogar. Trotzdem bedarf es einer größeren Vorstellungskraft, Stille zu begreifen, als auf den Lärm und die Hektik unser seichten menschlichen Welt zu reagieren.«
Sie runzelte die Stirn und erinnerte sich an Marikos Nachweis neuronaler Strukturen in den Blumen. »Wollen Sie damit sagen, diese Dinger hätten ein Bewusstsein?«
»Ich glaube schon, auch wenn es schwer nachzuweisen wäre.
Aber ich habe viel Zeit in Kontemplation verbracht. Und ich habe eine Intuition entwickelt. Eine Sympathie vielleicht.«
»Aber das ist doch grausam. Was für ein Gott müsste das sein, um einen solchen Plan zu entwickeln? Stellen Sie sich das mal vor.
Ein bewusstes Geschöpf ist auf der Oberfläche des Mondes gefangen, in dieser
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