Das Multiversum 2 Raum
Diejenigen, welche übrig blieben, vermehrten sich fleißig. Es war eine glorreiche Zeit, eine Zeit des Werdens und Vergehens.
Der Wandel beschleunigte sich. Sie klammerte sich an die dünne Kruste, die die Welt umhüllte. Sie spürte, wie große Massen tief unter ihr sich hoben und senkten. Das Land wurde heiß und löste sich in ein tiefes Meer aus flüssigem Gestein auf.
Und dann zerbrach das Land selbst, und große Stücke wurden in den Himmel geschleudert.
Noch mehr starben.
Aber sie hatte keine Angst. Es war glorreich! – Als ob das Land selbst Kometen gebäre, als ob das Land wie sie war und seine Kinder weit verstreute.
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Das Ende kam schnell, schneller als sie erwartet hatte, in einer Explosion aus Hitze und Licht, die aus dem Herzen des Lands selbst brach. Die letzte dünne Kruste zerbrach, und plötzlich gab es kein Land mehr, nichts, wo sie Wurzeln zu schlagen vermochte.
Es war die Verschmelzung, das Ende aller Dinge, und es war glorreich.
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kapitel 20
DER TUNNEL IM MOND
Frank und Xenia standen mit ihren Spinnennetz-Raumanzügen bekleidet auf einer schmalen Aluminiumbrücke. Sie waren unter dem Südpol-Bohrturm, der über dem Tunnel aufragte, den Frank ins Herz des Mondes gebohrt hatte.
Der Bereich um den Bohrturm hatte längst die beschauliche Themenpark-Anmutung verloren. Überall stapelten sich Aushub und Erz, das aus dem immer tieferen Loch im Boden gefördert wurde. Auf dem Gelände herrschte ein reger Verkehr von LHDs, automatisierten Muldenkippern. Diese Fahrzeuge wurden von riesigen Heckflossen geziert, die die überschüssige Wärme abführten – im Vakuum gab es nämlich keine Wärmeleitung und -konvek-tion –, und die beweglichen Teile befanden sich zwei Meter und mehr über dem Boden, wo die Wolken des aggressiven Mond-Staubes sie nicht erreichten. Xenia sah, dass die LHDs eigens für die Anforderungen auf dem Mond konzipiert waren.
Der Schacht unter Xenia war ein Zylinder aus funkelndem Mondglas. Der auf den Mittelpunkt des Mondes gerichtete Tunnel erstreckte sich in die Unendlichkeit. Lampen waren alle paar Meter in die Wände integriert, sodass der Schacht hell ausgeleuchtet wurde. Mit den vielfachen Lichtreflexen an den gläsernen Wänden sah er aus wie eine Passage in einem Einkaufszentrum. Kühl-und 364
andere Leitungen schlängelten sich durch den vertikalen Tunnel.
Er hatte eine perfekte Symmetrie, und ihr Blick wurde weder durch Dunst noch durch Staub getrübt.
Ihr wurde schwindlig. Sie trat zurück auf die feste Oberfläche des Mondes.
Frank rieb sich die Hände. »Es ist wundervoll. Wie in den alten Tagen. Ingenieure überwinden Hindernisse und schaffen Neues.«
Er wirkte irgendwie nervös und vermied es, ihr in die Augen zu schauen.
»Und dank dieser ausgeklügelten Problemlösung sind wir durch den Mantel gedrungen.«
»Ja, zum Teufel, wir sind durch. Du hast den Anschluss an das Projekt verloren, Schätzchen.« Er nahm ihre Hände. Auch wenn er im anonymen Anzug steckte und sein Gesicht verborgen war, war er noch immer unverkennbar Frank J. Paulis. »Und nun wird es Zeit für uns.« Ohne zu zögern – er zögerte nie – trat er an die Kante der filigranen Metallbrücke.
Sie folgte ihm. Ein Sicherheitsgurt an einem Flaschenzug hielt sie zurück.
»Wirst du mich begleiten?«, fragt er.
Sie holte Luft. »Ich habe dich immer begleitet.«
»Dann komm!«
Hand in Hand sprangen sie von der Brücke.
■
Gemächlich wie eine Schneeflocke sank Xenia unter dem Zug der Gravitation dem Herzen des Mondes entgegen. Der lockere Gurt zog sanft an den Schultern und zwischen den Beinen und bremste den Fall. Sie wurde von zwei Seilen aus Spinnenseide geführt, die straff im Tunnel gespannt waren; durchs Gewebe des Anzugs hörte 365
sie das Wimmern der Rollen am Seil. Sie hatte nichts unter den Füßen außer einem Tunnel aus Licht, der sich perspektivisch verengte. Xenia hörte ihren Herzschlag. Frank lachte.
Die Tiefenangaben an der Wand liefen an ihr vorbei und markierten die Beschleunigung. Aber sie hing hier im Vakuum, als ob sie im Orbit gewesen wäre; sie hatte kein Gefühl für die Geschwindigkeit, und ihr wurde auch nicht schwindlig angesichts der Tiefe unter ihr.
Sie wurden immer schneller. Nach ein paar Sekunden schon schienen sie die feinen RegolithSchichten durchstoßen zu haben, die pulverisierte Außenhaut des Monds und fielen durch den Megaregolith. Große Gesteinsbrocken drängten sich wie die Kadaver vergrabener Tiere hinter den transparenten
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