Das Multiversum 2 Raum
›Kriegsspiele‹ mit Katapulten und Armbrüsten stattgefunden, die imstande waren, Felsbrocken ein paar Kilometer weit zu schleudern.
Doch früher hatten die Menschen Minen bis zum Mittelpunkt des Monds vorgetrieben. Die heutigen Menschen wussten, dass das so war, denn sonst hätten sie hier nicht zu existieren vermocht. Sie wusste, dass es so war, denn sie erinnerte sich daran.
Als sie sich der Phytomine näherten, vereinigten die Verkehrsströme sich zu einer unüberschaubaren Ansammlung von Mensch und Tier. Es gab ein großes Wiedersehen von Freunden und Familien, und ein lautes Stimmengewirr erfüllte die Luft.
Als die Menge gar zu dicht wurde, ließen Xenia und Berge den Karren stehen und gingen zu Fuß weiter. Mit instinktiver Hilfsbe-reitschaft stützte er sie am Arm und führte sie durch diesen menschlichen Mahlstrom.
Kinder wuselten so schnell um sie herum, dass sie kaum zu glauben vermochte, dass auch sie einmal so jung und flink gewesen war. Sie spürte, wie die Reizbarkeit einer alten Frau von ihr Besitz 569
ergriff. Aber viele Kinder waren schon mit sieben, acht oder neun Jahren größer als sie – Mädchen mit großen Augen und der Statur kleiner Giraffen. Die einzige Konstante menschlicher Evolution auf dem Mond war, dass die Kinder in der schwachen Gravitation immer länger und schlaksiger wurden. Im späteren Leben zahlten sie jedoch einen hohen Preis in Form spröder Knochen, denen es an Kalzium mangelte.
Und Berge kannte wieder nur ein einziges Thema: Leonardo da Vinci.
»Leonardo versuchte die Zyklen der Erde herauszufinden. Wie man zum Beispiel Berge wieder in Meere zu verwandeln vermochte.« Er blätterte im zerlesenen Manuskript. »Man kann sagen, dass die Erde vom Geist des Wachstums beseelt und dass der Boden ihr Fleisch sei; die Knochen sind die vielen Schichten des Gesteins, das die Berge bildet; die Knorpel sind Tuffstein; die Wasseradern sind das Blut … Und das Herz der Welt ist das Feuer, das in der Erde sich ausbreitet; und der Geist des Wachstums hat seine Herkunft im Feuer, das an verschiedenen Orten der Erde in heißen Quellen und Schwefelminen ausgehaucht wird … Verstehst du, was er damit sagen will? Er versucht, die Zyklen der Erde analog zu den Systemen des menschlichen Körpers zu beschreiben.«
»Er hat sich geirrt.«
»Aber er hat eher richtig als falsch gelegen, Großmutter! Siehst du das denn nicht? Er schrieb das Jahrhunderte bevor die Geologie als Wissenschaft etabliert wurde, bevor Materie-und Energiezyklen erforscht wurden. Leonardo hatte die richtige Idee, woher auch immer. Er hatte nur nicht das intellektuelle Rüstzeug, um sie auch auszudrücken …«
Und so weiter. Nichts von alledem interessierte Xenia sonderlich. Während sie spazieren gingen, hatte sie das Gefühl, dass er schwerer wog, als ob sie, die närrische alte Frau, dazu verurteilt sei, ihn zu tragen, den Jungspund. Es war offensichtlich, dass die 570
Krankheit schnell voranschritt – und andere schienen das auch zu bemerken, denn die Menge machte ihnen mitleidig, wenn auch widerwillig Platz.
Schließlich erreichten sie die Pflanzung. Sie mussten sich in eine mehr oder weniger geordnete Schlange einreihen. Die Leute unterhielten sich angeregt und vermittelten den Eindruck freudiger Erwartung. Solche Besuche waren für viele Leute die Krönung eines langen Mond-Tags.
Durch einen Maschendrahtzaun und einen breiten Streifen nackten Bodens von den Menschen getrennt erstreckte sich ein Meer aus lebendigem Grün. Die Vegetation bestand hauptsächlich aus Senfpflanzen. Diese Pflanzen waren ihrer Größe und des schnellen Wachstums wegen ausgesucht und seit der letzten Mond-Dämmerung als Samen oder Schösslinge gesetzt worden. Die Pflanzen bildeten kräftige Stiele und leuchtende fedrige Blätter aus. Es waren aber schon viele Pflanzen krank, und die Blätter hatten sich gelblich verfärbt.
Der Zaun wurde von einem mürrischen Aufseher bewacht, der – um den Leuten zu zeigen, dass ihr Opfer einem höheren Zweck diente – Artefakte von unglaublichem Wert trug: Ohrringe, Bro-schen und Kettchen aus reinem Kupfer, Nickel und Zinn.
Der Aufseher leierte einen einstudierten Vortrag herunter und er-zählte ihnen, dass die Maginus-Mine die berühmteste und exo-tischste aller Phytominen sei: Weil hier nämlich Gold gefördert wurde, das noch immer als das edelste aller Metalle galt. Diese Senfpflanzen wuchsen in einem Boden, wo Gold, das durch Am-moniumthiocyanat aus dem Urgestein gewaschen wurde,
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