Das Multiversum 2 Raum
Himmel, wurden durch den Widerstand der Luft abgeplattet und platschten sanft, fast liebkosend auf Kopf und Rücken. Das Wasser klebte in gro-
ßen Placken an ihr, die sie mit den Fingern abwischen musste. So lang und langsam war der Fall aus den hohen Wolken, dass die Tropfen in der dichten, feuchten Luft oftmals erwärmt wurden.
Sie stellte sich vor, dass sie von der Sturmfront mitgerissen wurde, die den ganzen Mond umkreiste.
Das erinnerte sie an den Tag von Frank Paulis' großem Triumph.
Sie erinnerte sich an jene Stunde, als man zum ersten Mal aus den Kuppeln hinauszutreten vermocht hatte: Die Stunde, als Menschen erstmals ungeschützt auf dem Mond zu überleben vermochten – in Luft gehüllt, die aus den großen Minen angesaugt wurde, die Paulis' Namen trugen. Eine Stunde, die geschlagen hatte dank Franks visionärer Kraft, Mut, Entschlossenheit und wegen seiner Skrupellosigkeit. Frank hatte seinen Triumph genossen; an jenem Tag hatten die Behörden ihn aus diesem Anlass vom Hausarrest befreit. Sie erlaubten ihm aber nicht, als Erster eine Kuppel ohne Maske zu verlassen – dieses Privileg hatten sie ihm dann doch nicht zugestehen wollen. Aber er war unter den Ersten. Und das hatte ihm vielleicht auch schon genügt. Sie erinnerte sich, wie der vierschrötige Typ trotzig an die frische Luft gegangen war, die von ihm erzeugte Luft in tiefen Zügen einsog und lachte, als der Regen, dicke Mond-Regentropfen, ihm in den zahnlosen Mund platschten.
Und bald darauf war er gestorben.
Danach war Xenia mit den Gaijin zu den Sternen geflogen.
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Nach der Rückkehr stellte sie fest, dass die Geschichte um 1.300
Jahre fortgeschritten war. Die Erde war eine in Wolken gehüllte Ruine, das Sonnensystem wurde von einem interstellaren Krieg bedroht, und die letzten Menschen kämpften auf Merkur und dem Mond ums Überleben. Niemand erinnerte sich an sie, nicht einmal an die Vergangenheit: Es war, als ob es nie etwas anderes als diese düstere instabile Gegenwart gegeben hätte und auch nie etwas anderes geben würde. Also hatte sie ihre alte Identität aufgegeben und sich in diese Gemeinschaft integriert.
Dank des erneuerten Körpers, eines Geschenks aus einer der Zu-künfte, die sie besucht hatte, war sie körperlich jung geblieben. Sogar jung genug, um noch Kinder zu bekommen. Und nun starb sie trotz der unsichtbaren Reparatur des Körpers einen langsamen Tod, wie ihre Mitmenschen, wie der Mond.
Schon seltsam, dass die Lebensspanne des bewohnten Monds so kurz war wie ihre eigene: Dass ihre Geburt und ihr Tod Werden und Vergehen dieser kleinen Welt umspannten, dass ihre steinigen Knochen bald die Haut aus Luft und Wasser durchstoßen würden, wie Xenias Knochen durch ihr verwesendes Fleisch stoßen würden.
Schließlich erreichten sie Maginus.
Maginus war ein alter erodierter Kraterkomplex im Südosten von Tycho. Die uralten Wälle schimmerten im Widerschein von sichelförmigen Seen und Gletschern. Der von den Winden des Morgens und Abends geschützte Maginus war ein Mittelpunkt des Lebens, und lange bevor sie das Vorgebirge erreichten, sah sie im nachlassenden Regen die Wipfel von Mammutbäumen über den Horizont lugen. Sie glaubte, Tiere von Ast zu Ast hüpfen zu sehen. Es handelte sich vielleicht um Lemuren oder Fledermäuse; vielleicht ließen aber auch ein paar Kinder Drachen steigen.
Beim Durchqueren der vielen Wasserläufe geriet Berge in Verzü-
ckung. Er deutete auf Konstruktionen, die Leonardo vorwegge-nommen hatte: Dämme, Brücken, Stichkanäle und so weiter, die 568
man zum Teil noch nach dem Scheitern errichtet hatte. Trotzdem war das kein Trost für Xenia angesichts der todgeweihten Menschheit. Sie befuhren eine aus Mondglas bestehende Straße, die spie-gelglatt und absolut wetterfest war. Sie war vor langer Zeit von großen weltraumgestützten Maschinen angelegt worden. Aber sie befuhren diese Hightech-Straße in einem mittelalterlichen Holz-karren, der von einem klapprigen Maultier gezogen wurde.
Solche Kontraste waren ein steter Quell der Betrübnis für eine in der Zeit gestrandete Sternenfahrerin wie Xenia. Immerhin wäre die Technik, von der sie umgeben war, Berges Held Leonardo höchst vertraut gewesen, sagte sie sich in einer Anwandlung von Ironie.
Es gab Vorrichtungen mit Hebeln und Flaschenzügen und Zahnrädern, deren hölzerne Zähne immer wieder abbrachen; es gab Spannschlösser, Vorrichtungen für die Errichtung von Kathedralen aus Mond-Beton; und es hatten sogar lunare
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