Das Multiversum 2 Raum
er sich mit der Erklärung beholfen, dass die Fossilien vielleicht durch globale Überschwemmungen dort abgelagert worden waren.
Sie erinnerte sich daran, dass sie Berge, als er noch klein war, hatte erklären müssen, was ein ›Fossil‹ war. Auf dem Mond gab es keine Fossilien: Keine Knochen im Boden außer denen, die die Menschen dort selbst hinterlassen hatten. Doch heute interessierte Berge sich viel mehr für die Worte des längst toten Leonardo als für die Erzählungen seiner Großmutter.
»Du musst dir die Welt vorstellen, in der Leonardo lebte«, sagte er. »Die alten Paradigmen existieren noch immer: Die stationäre Erde, ein von Sphären überwölbter Himmel, primitive aristotelische Proto-Physik. Leonardos Herangehensweise bestand darin, die Beobachtung vor die Theorie zu setzen – und er beobachtete viele Dinge, die mit der vorherrschenden Weltsicht unvereinbar waren …«
»Wie Fossilien auf Berggipfeln.«
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»Ja. Er arbeitete allein und versuchte mit Erklärungen aufzuwarten. Und seine Überlegungen waren zum Teil – unheimlich.«
»Unheimlich?«
»Geradezu prophetisch.« Golden irrlichternde Augen funkelten.
Der Junge blätterte im Codex vor und zurück und zeigte ihr Skizzen von Erde, Mond und Sonne, akkurate Kreise, die durch spin-nennetzartige Lichtstrahlen verbunden waren. Was Leonardo umtrieb, war die Frage, weshalb der Mond nicht viel heller am Erdhimmel schien. Wenn der Mond eine Kristall-Sphäre mit vollkommener Rückstrahlung war, hätte er so hell sein müssen wie die Sonne.
»Wie der Spiegel.«
»Ja. Also stellte Leonardo die These auf, dass der Mond von Meeren bedeckt sei.« Er fand eine Abbildung, die den Mond mit überdimensionierten grauen Wellen zeigten, die in gebündelte Sonnenstrahlen getaucht waren. »Leonardo sagte sich, dass die Wellen der Mondmeere den Großteil des reflektierten Sonnenlichtes von der Erde ablenken müssten. Er glaubte, die dunkleren Stellen, die auf der Mondoberfläche zu sehen sind, markierten große stehende Wellen oder sogar Stürme auf dem Mond.«
»Er irrte sich«, sagte sie. »Zu Leonardos Zeit war der Mond eine Felskugel. Bei den dunklen Bereichen handelte es sich nur um Lavafelder.«
»Ja, natürlich. Doch nun«, sagte Berge erregt, »ist der Mond überwiegend mit Wasser bedeckt. Nicht wahr? Und es gibt starke Stür-me mit ein paar hundert Kilometer langen Wellen, die von der Er-de aus zu sehen sind – oder zu sehen wären, wenn es noch jemanden gäbe, der sehen könnte …«
Sie disputierten noch stundenlang.
Als er ging, brachte sie ihn zur Tür und winkte ihm zum Abschied.
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Der Tag war noch jung, die Sonne stand tief, und der Spiegel er-hellte noch den Himmel. Leonardos Vorhersagen hatten sich noch auf eine andere Art und Weise bewahrheitet, sagte sie sich, auch wenn sie das ihrem ohnehin schon aufgekratzten Enkel gegenüber nicht erwähnt hatte: In dieser Zukunft gab es Kristall-Sphären im Orbit um die Erde. Mit dem einen Unterschied, dass Menschen sie dort platziert hatten.
Als sie die Tür schloss, hörte sie das laute Schnattern von Gänsen. In Scharen flohen sie die gleißende Helligkeit des vollen Tageslichts.
■
Jeden Morgen, wenn die Sonne emporstieg, brach ein Sturm los.
Dicke, fette Wolken jagten über den Himmel, und dann öffnete er seine Schleusen. Wolkenbrüche frästen neue Wasserläufe in den uralten von Kratern übersäten Grund und verwandelten das Eis am Rand des Tycho-Schelfs in eine zerbrechliche, dünne Schicht aus grauem Matsch.
Die Stürme hielten noch an, als es Mittag an jenem letzten Tag wurde und sie mit Berge zu der Phytominen-Feier reiste, die an den unteren Hängen von Maginus stattfinden sollte.
Sie fuhren an weiten Feldern vorbei, die mit menschlicher und tierischer Muskelkraft bestellt wurden und auf denen dünne Hal-me dem Himmel sich entgegenstreckten. Die Mieten waren geöffnet und das Korn der schwülen Wärme ausgesetzt worden. Bald schlossen sie sich den Strömen der Karren an, die alle nach Maginus unterwegs waren. Der Anblick der Leute deprimierte Xenia: Die spindeldürren Erwachsenen, die Kinder mit tief in den Höhlen liegenden Augen – sogar die Ochsen, Pferde und Maultiere waren mager und mühten sich mit ihrer Last ab. Der Mondhumus 566
war dünn, und Mensch und Tier wurden obendrein schleichend vergiftet.
Die meisten Leute suchten Schutz vor dem Regen. Für Xenia war er ein Vergnügen. Mond-Regentropfen waren schimmernde Kugeln von Daumengröße. Sie schwebten vom
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