Das Multiversum 2 Raum
in einer Konzentration von vier Teilen pro Million vorkam. Nachdem die Pflanzen aber geerntet und verbrannt wurden, enthielt die Asche vierhundert Teile Gold pro Million, die das Kraut während seines kurzen Lebens aus dem Boden gezogen hatte.
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Die Phytominen, wo Metalle von Pflanzen konzentriert wurden, waren der vielleicht wichtigste Industriezweig, der auf dem Mond noch aktiv war.
Wie Frank Paulis vor Jahrhunderten schon gesagt hatte, war der Mondboden taub und unergiebig. Doch wo die Erde nun ruiniert war und es keinen Raumflug mehr gab, war der Mond alles, was die Menschen noch hatten.
Die Bewohner des Mondes hatten weder die Mittel noch den Willen, ihre Welt bis zu einer Tiefe von hundert Metern aufzurei-
ßen, um die benötigten Edelmetalle zu fördern. Weil ihnen die Kraft und das Werkzeug fehlten, hatten sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen.
Die Phytominen waren das Ergebnis.
Die Technik war alt – älter als der kolonisierte Mond, älter noch als der Raumflug. Die Wikinger, Marodeure des irdischen Mittelalters, gewannen ihr Eisen aus ›Wiesenerz‹, eisenhaltigen Knollen, die dicht unter der Erdoberfläche von Bakterien angelagert wurden: Winzige, unsichtbare Bergarbeiter, die die Wikinger mitver-brannt hatten, als sie Nägel und Schwerter, Pfannen und Kessel schmiedeten.
Und so existierte auf diesem kleinen Planeten eine Hierarchie aus Bakterien, Pflanzen, Insekten und Vögeln, die Gold, Silber, Nickel, Kupfer und Bronze sammelten. In ihren vergänglichen Körpern vereinigten sich verstreute Moleküle, die in Blättern, Fleisch und Knochen gespeichert waren – alles zum Nutzen jener zukünftigen Generation, die eines Tages den Mond retten musste.
Im Rahmen eines Rituals ließen Berge und Xenia Fragmente von Senfpflanzen-Blättern auf der Zunge zergehen und schluckten sie hinunter. Mit der vom Alter pelzigen Zunge schmeckte sie die Schärfe des Senfs kaum noch. Diese armen Senfpflanzen wurden nicht durch Mieten vorm Nachtfrost geschützt, weil sie den Son-572
nenuntergang nicht mehr erleben würden: Sie gingen innerhalb eines Mond-Tags an Cyanid-Vergiftung ein.
Berge sah ein paar Freunde und tauchte in der Menge unter.
Xenia ging allein und in Gedanken versunken nach Hause.
Sie sah, dass ihre Robbenfamilie aus dem Meer ans Ufer gekommen war. Sie waren ständige Besucher. In der Wärme des Mittags lagen sie stundenlang in der Sonne, wobei Männchen, Weibchen und Jungtiere über-und durcheinander lagen. Bis der Regolith, auf dem sie sich tummelten, mit ihren Ausscheidungen getränkt war und zum Himmel stank. Die Robben waren die einzigen irdischen Lebewesen, die sich nicht an die Bedingungen auf dem Mond angepasst zu haben schienen. In der geringen Schwerkraft hätten sie sicher Purzelbäume zu schlagen vermocht. Aber das taten sie nicht; stattdessen nahmen sie ein Sonnenbad, wie ihre Vorfahren an den fernen Gestaden der Arktis es getan hatten.
Xenia wusste nicht, weshalb das so war. Vielleicht waren die Robben einfach nur klüger als die sich abzappelnden, träumenden Menschen.
■
Der lange milde Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Das ge-streute Licht der tiefstehenden Sonne färbte den Himmel gelb-rot.
Die in gelbe Wolken gepackte Erde war deutlich zu sehen – es handelte sich um Wolken aus Staub, Schutt und Wasserdampf, die durch den großen Einschlag vor hundert Jahren aufgewirbelt worden war. Wolken, die laut Aussage der Wissenschaftler sich erst in ein paar hundert Jahren wieder auflösen würde. Heute warf kaum noch jemand einen Blick auf die Erde – als ob sie, wo sie nun kein ›Blauer Planet‹ mehr war, unansehnlich geworden wäre und das Auge irgendwie beleidigte. Xenia machte jedoch eine trübe grüne 573
Wolke aus, die um die Erde wanderte: Das war ein fliegender Wald, Bäume, die den Einschlag überlebt hatten und die noch immer mit Supraleiter-Wurzeln Nährstoffe aus der turbulenten Luft zogen.
Der Kometeneinschlag war vergleichsweise schwach gewesen, zumindest im kosmischen Maßstab solcher Ereignisse. Aber er hatte ausgereicht, um die Erde zu zerstören; niemand auf dem Mond wusste, wer oder was auf der Oberfläche überlebt hatte. Xenia fragte sich jedoch, ob die Bäume auch die schwereren und häufigeren Einschläge überstehen würden, die nach Einschätzung vieler Leute die unvermeidliche Konsequenz des Kampfs in der Oort-Wolke waren. Die Zerstörer drohten nämlich den Sperrriegel der Gaijin zu durchbrechen, und dann würden kriegerische Aliens
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