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Das Multiversum 2 Raum

Das Multiversum 2 Raum

Titel: Das Multiversum 2 Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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das überfüllte Zentrum des Sonnensystems mit einem Bombardement aus vagabundierenden Himmelskörpern belegen.
    Solche Gedanken lenkten sie aber nicht von der Sorge um Berges Zustand ab, der sich zusehends verschlechterte. Sie war gerührt, als er beschloss, die ihm noch verbleibende Zeit bei ihr zu verbringen – ›auszuchecken‹, wie er sich ausdrückte.
    Ihre Zuneigung zu Berge war leicht zu verstehen. Ihre Tochter war im Kindbett gestorben. Damit musste man rechnen, wenn der große fragile Schädel eines mondgeborenen Kindes sich durch ein Becken zu zwängen versuchte, das sich in der starken Erd-Gravitation entwickelt hatte – und Xenias Gene stammten natürlich von der Erde, aus ihrer tiefsten Vergangenheit.
    Deshalb hatte sie sich über die Geburt von Berge gefreut, der von ihrem Sohn, einem Mondgeborenen gezeugt worden war; sie hatte sich damit getröstet, dass ihre Gene, die einem am Himmel verlorenen Urmeer entsprungen waren, bis in die fernste Zukunft weitergegeben würden. Doch nun schien es, als ob sie selbst um diesen Trost gebracht würde.
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    Aber sie war nicht wichtig, weder die Zukunft noch ihre komplexe Vergangenheit. Das Einzige, was zählte, war Berge hier in der Gegenwart, und ihm widmete sie ihre ganze Kraft und ihre Liebe.
    Berge investierte die schwindende Energie in fieberhafte Aktivitä-
    ten. Er war von Leonardo besessen. Er zeigte ihr Bilder unglaublicher Maschinen, weit jenseits der technischen Möglichkeiten von Leonardos Zeit: Wellen und Zahnräder für die Erzeugung enormer Kräfte, ein Tauchapparat, ein ›leichtbeweglicher Wagen‹ mit eige-nem Antrieb. Der berühmte Hubschrauber hatte es Berge besonders angetan. Er baute unzählige spiralförmige Modelle aus Bambus und Papier; sie widersetzten sich mit Leichtigkeit der Schwerkraft des Mondes, stiegen hoch in die Luft empor und leuchteten im Widerschein des Sonnenuntergangs.
    Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt wusste, dass er bald sterben würde.
    Wenn sie bei ihrem Enkel saß und über seinen Schlaf wachte oder wenn sie dem unheilvollen, mysteriösen Rumoren ihres Körpers lauschte, der vergiftet und von den Kapriolen der Mondgravitation zerrüttet war, fragte sie sich manchmal, wie tief die Menschen noch sinken mussten.
    Selbst die schwereren Moleküle der dichten Atmosphäre bewegten sich zu schnell, um von der Mond-Gravitation festgehalten zu werden. Die Luft würde sich in ein paar tausend Jahren ausgedünnt haben: Eine lange Zeit, aber ein überschaubarer Zeitraum.
    Die Menschen würden diese Welt, die sie erschaffen hatten, lang vorher zurückerobern müssen, oder sie würden sterben.
    Also sammelten sie Metalle, Molekül um Molekül.
    Außerdem würden sie Wissen brauchen.
    Der Mond war zu einer Welt geduldiger Mönche geworden, die unablässig die großen Texte der Vergangenheit kopierten und den Jungen das zerfasernde Wissen von Jahrtausenden einhämmerten.
    Xenia hielt es für wichtig, dass sie nicht das Zusammengehörig-575
    keitsgefühl als ein Volk und die Erinnerung verloren. Aber sie be-fürchtete, dass das unvermeidlich war. In technischer Hinsicht waren sie bereits aufs Niveau neusteinzeitlicher Bauern abgestiegen, und die Jungen zerbrachen schon an der Arbeit, während sie noch in der Ausbildung waren.
    Sie hatte lang genug gelebt, um zu erkennen, dass das Wissen der Menschheit Stück für Stück verlorenging.
    Wenn sie eine einfache Botschaft hätte, die sie künftigen Generationen übermitteln sollte, etwas, an das sie sich erinnern sollten, damit sie nicht in der Barbarei versanken, dann diese: Wir Menschen kamen von der Erde. Hier waren Kosmologie, die Geschichte der Spezies und die Verheißung der Zukunft in einem einzigen, ebenso rätselhaften wie heroischen Satz verpackt. Sie sagte ihn jedem, dem sie begegnete. Vielleicht würden die zukünftigen Denker sich seine Bedeutung erschließen und wissen, was zu tun war.
    ■
    Berges Verfall beschleunigte sich, als die Sonne am Horizont versank; das Uhrwerk des Universums spiegelte seinen Zustand mit einer ebenso plumpen wie gedankenlosen Ironie. In den letzten Stunden saß sie bei ihm und sprach leise mit ihm. Auf sein altklu-ges Philosophieren reagierte sie mit der üblichen Burschikosität, an der sie in dieser letzten Stunde bewusst festhielt.
    »… Hast du dich jemals gefragt, weshalb wir hier und jetzt sind?«, flüsterte er. Im Licht der untergehenden Sonne stach die kränkliche goldene Färbung seines Gesichts umso intensiver hervor. »Was

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