Das Multiversum 2 Raum
Worte. Was würde er schreien?
Ich.
Ich bin.
Ich bin Reid Malenfant .
■
Er sah das Segel.
Es war ein gazeartiges Tuch, das über die dicht gedrängten Sterne dieses Orts drapiert war – wo, Malenfant? Natürlich der Kern der Galaxis, sagte er sich, wobei ein Gefühl des Wunders durch den Schmerz brach –, und unter dem geblähten Segel sah er einen Neutronenstern, eine zornig rot glühende Kugel mit einer unheimlichen xenonblauen Marmorierung.
Sie sah aus wie ein Spielball.
Ein Stern mit einem Segel. Schön. Schaurig.
Triumph wallte in ihm auf. Ich habe gewonnen, sagte er sich. Ich habe das koan gelöst, das große Rätsel des Kosmos; Nemoto würde sich freuen. Und nun verbessern wir beide ein unbefriedigendes Universum. Das ist ein Kracher.
Aber wenn du das alles siehst, Malenfant, was bist dann du?
Er schaute an sich hinab. Versuchte es.
Ein kurzes Körpergefühl. Breitbeinig auf dem hauchzarten Gespinst des Segels. Klammerte sich mit Fingern und Zehen, Affenklauen, im Mittelpunkt der Galaxis fest. Eine Metapher natürlich, eine Illusion, um sein armes menschliches Bewusstsein zu trösten.
Wil kommen in der Realität.
Der Schmerz! O Gott, der Schmerz.
Furcht brandete gegen ihn an. Und Zorn.
Und dann erinnerte er sich an den Mond, wo es angefangen hatte …
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kapitel 1
GAIJIN
Als Passagier im Schlepper HOPE-3 flog Reid Malenfant dem Mond entgegen.
Die Basis auf der Mondrückseite, Edo genannt, war eine Ansammlung von Betongebäuden – Wohnmodule, Kraftwerke, Lagerhäuser, Fertigungsstätten –, die in die kraterübersäte Ebene eingegraben waren. Beim Landeplatz handelte es sich um einen ein paar Kilometer außerhalb der Station gelegenen Klecks aus versengtem Mondstaub-Beton. Der Regolith um die Station selbst war durch Spuren von Zugmaschinen zerfurcht.
Überall wuselten Roboter herum und gingen verschiedenen Verrichtungen nach; Edo wuchs wie eine Bakterienkultur in einer Nährlösung.
Eine hi-no-maru, eine japanische Sonnenflagge hing an einem Mast im Mittelpunkt von Edo.
■
»Ich heiße Sie in meinem Heim willkommen«, sagte Nemoto.
Sie empfing ihn in der Luftschleuse der Landezone, in einer ge-räumigen Kammer, die man in den Regolith gesprengt hatte. Sie 7
hatte ein breites, bleiches Gesicht mit schwarzen Augen, und das raspelkurze Haar brachte ihre Kopfform zur Geltung. Sie lächelte, anscheinend gewohnheitsmäßig. Sie war höchstens halb so alt wie Malenfant, vielleicht dreißig.
Nemoto half Malenfant beim Anlegen des Anzugs, den man ihm auf dem Flug von der Erde ausgehändigt hatte. Die Farbe des Anzugs war signalorange. Er hatte eine bequeme Passform und drückte nicht einmal an den Gelenken; getrübt wurde der Trage-komfort nur durch die eingenähten schweren Platten der Wolf-ramarmierung.
»Das ist geradezu ein Quantensprung im Vergleich zu den alten EMUs, die ich als Shuttle-Pilot getragen hatte«, sagte er im Versuch, Konversation zu machen.
Nemoto lauschte, wie junge Leute es zu tun pflegen, höflich den bruchstückhaften Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Sie sagte ihm, dass der Anzug auf dem Mond hergestellt worden sei und aus Spinnenseide bestünde. »Ich werde Ihnen die Fabrik zeigen. Ei-ne Höhle unter der Mondoberfläche, mit lauter riesigen Spinndü-
sen. Ein alptraumhafter Anblick …!«
Malenfant fühlte sich desorientiert und rastlos.
Er war hier, um leitenden Angestellten von Nishizaki Heavy Industries einen Vortrag über die Kolonisierung der Galaxis zu halten. Doch nach dem Verlassen des Schleppers wurde er von Nemoto empfangen, der Nachwuchsforscherin – fast noch ein Kind –, die ihn auf den Mond eingeladen hatte. Er hoffte nur, dass er sich nicht zum Narren machte.
Reid Malenfant war ein ehemaliger Astronaut. Er hatte die letzte Shuttle-Mission – STS-194 – mit der Discovery geflogen, als das Raumtransportsystem vor zehn Jahren das Ende der erwarteten Lebensdauer erreicht hatte und die noch immer unvollendete Internationale Raumstation schließlich auch aufgegeben worden war.
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Seitdem war kein Amerikaner mehr ins All geflogen – höchstens als Gast der Japaner, Europäer oder Chinesen.
Heute, im Jahr 2020, war Malenfant sechzig Jahre alt, fühlte sich aber viel älter – als Flüchtling in diesem seltsamen neuen Jahrhundert gestrandet. Er hoffte nur, dass es ihm gelang, seine Würde zu bewahren.
Egal, sagte er sich, trotz der zweifelhaften Politik, trotz der An-fechtung seiner Würde war er hier. Es war der Traum seines langen
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