Das Multiversum 3 Ursprung
Maul des Krokodils öffnet sich.
Die Augen des Kinds sind weiß. Sie starren auf die Leute auf dem Floß.
Das Maul klappt zu.
Das Kind ist aus den Augen, aus dem Sinn.
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Das Floß treibt flussabwärts und dreht sich langsam dabei. Die Leute klammern sich stumm daran fest. Sie sind in ihren Köpfen eingeschlossen.
Reid Malenfant:
Zehn Minuten vorm Eintauchen in die Mondumlaufbahn wurde es in der Kabine unmerklich dunkler. Während die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, erblickte Malenfant zum ersten Mal die Sterne in ihrer ganzen Pracht. Ein regelrechter Teppich aus Sternen leuchtete klar und stetig vor ihm. Sie waren in den Schatten des Monds eingetaucht.
Malenfant und Nemoto hatten sich beide auf den Liegen ange-schnallt. Sie mussten eine Checkliste durchgehen und Einstellun-gen auf den verschiedenen Softscreen-Anzeigen bestätigen, als ob sie richtige Astronauten wären wie die alte Apollo-Garde. Aber die Insertions-Sequenz war voll automatisiert: Entweder es klappte oder nicht. Und es gab auch nichts, was Malenfant zu tun vermocht hätte – nichts, außer auf die dicke rote Abbruch-Taste zu hauen, die die Zündsequenz des Triebwerks änderte und sie wieder nach Hause schickte. Er würde das nur beim Totalausfall der Steuerung tun …
Er schaute nach oben aus dem Fenster. Eine Scheibe aus Dunkelheit überlagerte die Sterne wie eine plötzliche Flut.
Das war natürlich der Rote Mond. Sein Herz schlug höher.
Was hattest du denn gedacht, Malenfant? Wunderst du dich etwa über die Feststellung, dass dieser große Himmelskörper, dieser riesige neue Mond real ist?
Vielleicht wunderte er sich wirklich. Vielleicht hatte er sich zu lang in Raumfähren und der Raumstation aufgehalten, wobei er immer nur im Kreis geflogen war und Löcher in den Himmel 207
gestarrt hatte. Er war zu dem Glauben konditioniert worden, dass der Raumflug kein Ziel hatte.
Als sie hinter dem fremden Mond verschwanden, verloren sie plötzlich das Signal von Houston. Zum ersten Mal seit dem Start waren sie allein.
In der Kabine war es warm – über fünfundzwanzig Grad –, aber er fror, wo die Kleidung die Haut berührte.
Emma Stoney:
Der breite Wasserlauf verlief von West nach Ost, so dass die untergehende Sonne den Oberlauf beschien und dem Wasser das Aussehen eines öligen Rollfelds verlieh. Dicke schwarze Aschewolken durchzogen den glühenden Himmel. Und wenn sie stromabwärts schaute, sah sie die fast volle Erde dicht über dem Horizont hängen, direkt überm dunklen Wasser – als ob der Fluss eine breite Straße wäre, auf der sie nach Hause fuhr.
Das Floß trieb mit langsamen Drehungen im braunen, träge da-hinströmenden Wasser in östlicher Richtung. Überhaupt war das kein Floß, sagte Emma sich, nur eine ineinander verhakte Ansammlung aus Ästen, die nur vom Gewirr der Äste und Zweige und den starken Fingern der Läufer zusammengehalten wurde.
Ständig lösten sich Zweige ab und trieben davon, so dass das Floß immer kleiner wurde und die Läufer ängstlich zusammenrückten.
Das Floß hatte weder Ruder noch ein Steuer oder ein Segel und entzog sich damit jeder Kontrolle.
Natürlich redeten die Läufer auch nicht miteinander. Wo Menschen geschrien, geweint und diskutiert hätten, was zu tun sei, sich gegenseitig getröstet oder Vorwürfe gemacht hätten, klammerten die Läufer sich nur stumm und mit großen Augen an die Äste und aneinander. Jeder Läufer war in stiller Angst gefangen und 208
fast so isoliert, als wenn er körperlich allein gewesen wäre. Emma hatte auch Angst, aber sie wusste wenigstens, dass sie in der Klem-me steckten und zermarterte sich den Kopf wegen einer Lösung.
Den Läufern blieb nichts anderes übrig, als untätig zu warten, während das Schicksal und der Fluss sie einem unbestimmten Ziel entgegenführten.
Der von nackten, starken und zitternden Körpern umgebenen Emma waren die Beschränkungen der Läufer noch nie so stark ins Bewusstsein gedrungen wie jetzt.
Und diese Hams hatten einen Eindruck wie Neandertaler aus dem Bilderbuch auf sie gemacht. Was ging hier eigentlich vor …?
Der Fluss strömte durch eine Art Mangrovensumpf. Die Bäume waren niedrig, und die purpurnen Stacheln blühender Wasser-Hyazinthen ragten dicht über das ölig schwarze Wasser. Sie passierten eine Landzunge, die mit Seerosen bewachsen war, deren weiße Blü-
ten halb geschlossen waren. Die Blätter waren oval mit gezackten Rändern, die an der Oberseite hellgrün waren und unten rotbraun.
Emma
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