Das muss Liebe sein
Manche Menschen mochten das als wankelmütig bezeichnen, aber sie sah das anders – eher als eine gewisse Risikobereitschaft. Sie hatte keine Angst davor, mitten auf dem Weg eine andere Richtung einzuschlagen. Sie war allem gegenüber ziemlich aufgeschlossen. Abgesehen von dem Gedanken, dass sie ihrem Herzen gestatten könnte, sich auf Joe einzulassen. Eine Beziehung mit ihm würde nie im Leben gut gehen. Sie waren zu verschieden. Tag und Nacht. Positiv und negativ. Yin und Yang.
Bald würde er aus ihrem Leben verschwunden sein. Die Vorstellung, ihn nie wiedersehen zu müssen, hätte sie freuen sollen. Doch sie verursachte nur ein Gefühl der Leere.
Am nächsten Morgen joggte sie die üblichen zwei Meilen, bevor sie sich für die Arbeit zurechtmachte. Nach dem Duschen schlüpfte sie in einen weißen Slip mit kleinen roten Herzen und zog den dazu passenden BH an. Die Garnitur war aus Trikotstoff gefertigt und gehörte zu den wenigen Geschenken aus Francis' Laden, die Gabrielle tatsächlich trug. Sie bürstete ihr Haar aus, und während es trocknete, legte sie Make-up auf und steckte sich perlenverzierten Ohrschmuck ins Ohr.
Montags hatte Kevin seinen freien Tag, und sie würde bis zu Moras Eintreffen zu Mittag allein mit Joe im Laden sein. Der Gedanke, allein mit ihm zu sein, machte ihr Angst und ließ gleichzeitig aufgeregte kleine Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern. Sie fragte sich, ob er wieder, wie in der letzten Woche, hinter der geschlossenen Bürotür in Kevins Papieren schnüffeln würde. Oder ob sie sich etwas ausdenken würden, was er noch bauen oder reparieren konnte. Und sie fragte sich, ob er wieder diesen tief auf den Hüften hängenden Werkzeuggürtel tragen würde.
Es klingelte an der Haustür, und darauf folgte ein nachdrückliches Klopfen, das sie auf Anhieb zuordnen konnte. Sie schob die Arme in ihren weißen Frotteebademantel und ging zur Tür. Während sie mit einer Hand ihr Haar im Nacken aus dem Kragenausschnitt befreite, schob sie mit der anderen den Riegel zurück. Statt Jeans und T-Shirt, wie gewohnt, trug er einen blauen Anzug, ein blütenweißes Hemd und eine burgunderrot und blau gemusterte Krawatte. Eine verspiegelte Sonnenbrille verbarg seine Augen, und in der Hand hielt er eine Tüte aus demselben Bistro an der Eighth, in dem er am vergangenen Freitag das Mittagessen gekauft hatte. Die andere Hand hatte er in die vordere Jeanstasche geschoben. »Ich bringe das Frühstück«, sagte er.
»Wie? Hast du etwa ein schlechtes Gewissen, weil du dich gestern über mich lustig gemacht hast?«
»Ich habe mich nicht über dich lustig gemacht«, behauptete er mit völlig ernster Miene. »Lässt du mich rein?«
»Gewöhnlich fragst du doch gar nicht erst.« Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, und schloss dann die Tür hinter ihm. »Sonst platzt du doch auch einfach so herein.«
»Heute war die Tür abgeschlossen.« Er stellte die Papiertüte auf dem Couchtisch ab und nahm zwei Brötchen und zwei Becher Kaffee heraus. »Ich hoffe, du magst Käsebrötchen«, sagte er, nahm die Sonnenbrille ab und schob sie in die Innentasche seines Jacketts. Dann blickte er sie aus müden Augen an und löste die Deckel von den Styroporbechern. »Hier.«
Gabrielle mochte keinen Kaffee, nahm ihn aber trotzdem. Er reichte ihr ein Brötchen, und sie nahm auch das. Zum ersten Mal, seit sie die Tür geöffnet hatte, bemerkte sie die Anspannung um seine Mundwinkel. »Was ist los?«
»Iss lieber erst einmal. Wir reden später.«
»Erst essen? Wie soll ich jetzt essen können?«
Sein Blick glitt über ihre Wangen und ihren Mund und dann zurück zu ihren Augen. »Gestern spät am Abend hat ein Kunsthändler aus Portland Kontakt zu Kevin aufgenommen. Er heißt William Stewart Shalcroft.«
»Ich habe von William gehört. Kevin hat für ihn gearbeitet.«
»Er arbeitet immer noch für ihn. Um drei Uhr heute Nachmittag kommt William Stewart Shalcroft mit dem Delta-Flug zwei-zwanzig nonstop aus Portland. Er und Kevin haben sich in einer Lounge im Flughafen verabredet, wo der Hillard-Monet gegen Bargeld den Besitzer wechseln soll. Dann will Mr. Shalcroft einen Wagen mieten und zurück nach Portland fahren. Er wird es nicht einmal bis zum Autoverleih schaffen. Wir verhaften beide, sobald der Tausch stattgefunden hat.«
Gabrielle blinzelte. »Das soll wohl ein Witz sein, nicht wahr?«
»Ich wollte, es wäre so, aber es ist nun mal Tatsache. Seit der Nacht, in der der Diebstahl stattfand, ist Kevin im Besitz
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