Das Muster der Liebe (German Edition)
gesammelt, aber nichts war ihr so nahegegangen wie die Berührung von Jordans Lippen. Die Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, waren rau und verschwitzt. Begierig darauf, die Führung zu übernehmen und zu bestimmen, wo es langging. Bis vor ein paar Tagen wusste Alix nicht, dass ein einfacher Kuss solche Wonnen bereiten konnte. Trotz des Glücks, das sie empfand, rief sie sich zur Räson: Dies alles hing vielleicht nur mit dem geplatzten Traum eines Viertklässlers zusammen.
Auch an diesem Tag noch, fast eine Woche nach dem Kuss, erinnerte sie sich an jede einzelne Nuance. Jordan hatte ihr Gesicht in seine Hände genommen und ihr ganz tief in die Augen geschaut. In seinem Blick sah sie Überraschung und auch Unsicherheit. Nach dem Kuss trennten sie sich. Es schien fast so, als müssten sie Raum und Zeit für sich haben, um die Ereignisse einordnen zu können.
Alix hatte Jordan seitdem weder gesehen noch gesprochen. Sie versuchte, nicht zu oft über jenen Abend nachzudenken. Nicht sicher, was sie eigentlich dazu bewog, ging sie am Sonntagmorgen zu der Freien Methodistenkirche. Sie stand auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, rauchte drei Zigaretten und beobachtete, wie die Menschen in die Kirche strömten.
In einem Punkt hatte Jordan recht: Nur wenige ältere Frauen trugen Hüte, Handschuhe und altmodische Kleider. Die meisten Besucher waren Familien mit kleinen Kindern. Alle brachten ihre Gebetbücher mit. Alix hatte irgendwann mal eine Bibel besessen, aber das war so lange her, dass sie gar nicht mehr wusste, wo das Buch überhaupt abgeblieben war. Sie betrachtete also die Kirchgänger und stellte fest, dass der Großteil von ihnen tatsächlich ganz normale Kleidung trug. Trotzdem wagte sie nicht, die Kirche zu betreten.
Sie drückte sich an der Straßenecke herum und hoffte darauf, dass Jordan sie erkennen würde. Doch er hatte sie offenbar nicht gesehen, und sie konnte ihn leider ebenfalls nicht entdecken.
Die Musik, die aus der Kirche drang, war gut. Rhythmisch und lebendig – ganz anders als in ihrer Erinnerung. Die Kirchenmusik, die sie aus ihrer Kindheit kannte, klang, als stammte sie aus dem Mittelalter. Heutzutage war das anders. Als sie sich plötzlich dabei ertappte, wie sie mitsummte, wurde sie rot.
Nach etwa vierzig Minuten ging sie gemächlich weiter, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Es wäre vielleicht gar nicht so schlimm gewesen, in die hinterste Sitzbank in der Kirche zu schlüpfen, um sich mal umzuschauen. Aber ihre Furcht hinderte sie daran. Wenn sie nun darüber nachdachte, wusste sie selbst nicht mehr, warum sie Angst gehabt hatte. Möglicherweise war es die Unsicherheit, jemand hätte sie ansprechen können.
Statt weiter über die letzte Woche nachzugrübeln, schlug Alix die Decke zurück und kletterte aus dem Bett. Laurel saß vor dem Fernseher. Es war ein altertümlicher Apparat mit miserabler Bildröhre und einer Konstruktion aus Alufolie, die die Zimmerantenne ersetzen sollte. Alix’ Mitbewohnerin sah sich Cartoons an.
“Guten Morgen”, murmelte Alix auf ihrem Weg in die Küche.
Laurel ignorierte sie.
“Was ist los?”, wollte Alix wissen. Eigentlich waren sie Freundinnen, doch in letzter Zeit sprach Laurel kaum noch mit ihr. Seit Wochen schmollte sie.
Laurel schüttelte stumm den Kopf. Offensichtlich hatte sie keine Lust zu reden. Alix wusste beim besten Willen nicht, was in Laurel gefahren war. Aber sie vermutete, dass es mit diesem schmierigen Gebrauchtwagenverkäufer zusammenhing. In den letzten Tagen hatte Alix ihn gar nicht mehr im Videoladen gesehen. Eine Zeit lang waren Laurel und er ständig zusammen gewesen, doch seit Kurzem schien er wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Was auch immer geschehen war, es würde wahrscheinlich ein Geheimnis bleiben. Denn Laurel machte nicht den Eindruck, als wollte sie von sich aus etwas erzählen.
“Gut, dann suhl dich eben in deiner schlechten Laune”, sagte Alix und nahm sich eine Banane. “Mir egal.”
Wieder würdigte Laurel sie keines Blickes. Während sie die Banane schälte, ließ Alix sich auf einen der Stühle in der Wohnung sinken. Irgendjemand hatte die ramponierten Sitzgelegenheiten auf einem Parkplatz abgestellt, und als Alix und Laurel sie entdeckten, schleppten sie sie drei Blocks weit in ihr Apartment. Die Stühle waren schon ziemlich abgenutzt, aber Alix hatte einen hübschen Stoff über die Sitzflächen gezogen. Mit ein paar Säumen und Knicken festgesteckt sahen die Möbelstücke nur
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