Das Musterbuch (German Edition)
zugleich annehmen konnte.
Auch Alvise Vivarini war derweil herangewachsen und lernte beim Venezianer. Künstlerisch stand er seinem Onkel Bartolomeo nahe. Er gehörte der Scuola Grande di Santa Maria della Carità an. Doch schon bald musste sich Alvise verabschieden: er erhielt einen Auftrag in Montefiorentino bei Pesaro.
Engelsgleich schritt er ins Atelier, ohne durch Geräusche auf sich aufmerksam zu machen. Seine tiefliegenden Augen waren dunkelblau; er hatte einen intensiven Blick. Seine glänzend schwarzen Haare trug er nach hinten gekämmt. Er war gross an Körperbau und Giovanni erkannte sofort, dass dieser garzone kein Kind mehr war. "Ich bin Claudio und suche den maestro Bellini." Klar war seine Stimme und Giovanni, der an der Staffelei sass, dachte unvermutet an eine lieblich klingende lyra da braccia .
"Hier bin ich! Tritt näher und sage mir, was du von mir lernen möchtest." Giovanni war jetzt ein Mann gestandenen Alters und wusste genau, wie man mit jungen Burschen umging. Schliesslich war er der maestro , die anderen hingegen waren die Lehrlinge.
Der junge Mann machte eine Art Verbeugung und berichtete von seinem Grossvater, der Maler in Treviso war und ihm geraten habe, in die Werkstatt der Familie Bellini einzutreten. "Und warum bei mir und nicht bei meinem Bruder?", wunderte sich Giovanni. "Sie haben das grossartigste Werk geschaffen, das ich je gesehen habe: diese Pietà mir den geschwollenen Augen des Evangelisten!"
Dabei schweifte sein Blick zur fast vollendeten Holztafel an der linken Wand neben dem Treppenaufgang. Giovanni war beeindruckt von so viel künstlerischer Kennerschaft und rhetorischem Improvisationstalent.
Es bildete sich recht schnell eine intensive Freundschaft zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren: der eine feingliedrig, blond und poetisch veranlagte reife Künstler, der andere zielbewusst, dunkelhaarig und dabei kräftiger und grosser schöner junger Mann. Bereits ein Blick auf das leicht gewellte Haar Claudios konnte Giovanni in Erregung versetzen.
Oftmals sassen sie einfach nebeneinander, zeichneten wie zwei Brüder, und lachten, während sie sich ihre Resultate zeigten. Während dieser Zeit hatte Giovanni wieder seine ursprüngliche unbeschwerte, kindliche Natur wiedergefunden. Doch er war sich bewusst, dass diese Zeit nur eine Art Übergang war, ein Übergang in ein gesetztes Dasein, das von den Konditionen wie Auftragslage, Management seines Ateliers, Gründung einer Familie und selbstverständlich seinem inneren Impetus zum Malen abhing.
Er wollte sich neben Gentile und Andrea Mantegna seinen Ruf als ein bedeutender Maler des ausgehenden 15. Jahrhunderts wahren. Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er vor dem Platz einen Stand mit frischem Obst erblickte und sich einen schönen roten Apfel aus dem Korb angelte.
"Nehmen sie einen für zuhause, einen reifen für jetzt", empfahl ihm eine Dame, die ebenfalls in den Korb griff. Giovanni erkannte sofort das schöne Gesicht mit den himmelblauen Augen wieder. "Jetzt begegnen wir uns schon zum dritten Mal und ich weiss von ihnen nur, dass sie Ginevra heissen, ...Ginevra...“ “Bocheta, „ergänzte sie. „. Mein Vater wohnt dort drüben neben der Lio-Kirche und ich sorge für den Haushalt, seitdem Mutter gestorben ist." "Und ich bin der Maler Giovanni Bellini...", "ich weiss, ich erinnere mich.", unterbrach ihn die Dame, "ausserdem spricht doch halb Venedig von Ihnen!" "Dann darf ich also hoffen, Sie eines Tages in meinem Atelier malen zu dürfen? Es ist gleich dort drüben!" "Ja, ich komme gern einmal und stehe Modell für eine Ihrer schönen Madonnen."
Beim nunmehr herzlichen Abschied fühlte Giovanni auf einmal, dass eine andere Zeit angebrochen war. Wehmütig dachte er an die unbefriedigende Liebe zu Elena und ihren gemeinsamen Sohn und beschloss, diesem Martyrium ein Ende zu machen. ' HAEC FERE QUUM GEMITUS TURGENTIA LUMINA PROMANT BELLINI POTERAT FLERE JOHANNIS OPUS ' schoss es ihm durch des Kopf: 'Sobald die vom Weinen geschwollenen Augen die Klagen hervorbrachten, konnte das Werk des Giovanni Bellini weinen...!' Diese waren seine Ergänzungen zu Worten des antiken Dichters Properz, aus einer Schrift, die er vor kurzem erst bei seinen Freunden kennengelernt hatte. Endlich hatte er einen Text für seinen cartellino der Pietà gefunden!
Kapitel XXV
Giovanni schritt durch die Porta della Carta, nahm einen Blick auf die schönen Tugenden - Temperanza, Fortezza, Prudenza und Carità - in
Weitere Kostenlose Bücher