Das Musterbuch (German Edition)
Knaben im Vordergrund, zu dem sich die Mutter auf dem Schosse ihrer Mutter Anna beugte. Ist die Weitergabe der Mutterliebe nicht der Keim aller menschlichen Liebe?
Im April desselben Jahres verliess Leonardo Venedig und begab sich nach Florenz.
***
"Kennst du die Legende von der Auffindung des Heiligen Kreuzes?" Gentile begann angeregt, seinem Bruder die Geschichte zu erzählen.
"Die Geschichte ereignete sich entweder 1370 oder 1382. Bei einer Prozession des Heiligen Kreuzes aus San Lorenzo fiel die heilige Reliquie in den Canale . Ich habe diese Geschichte etwas aktualisiert. Schau, dort ist der Doge Andrea Vendramin, der noch zur Zeit unseres Vaters regierte, ins Wasser gestiegen, um sie zu retten. Ganz Venedig ist auf den Beinen, dem Wunder beizuwohnen. Arme Leute, noble Leute und gar eine Königin: schau hier kniet Catherina Cornero, die Königin von Zypern, die du vielleicht noch von meinem Porträt her kennst, im goldenen Kleid. Und gegenüber...", "das ist ja unser Vater!", unterbrach ihn Giovanni, "und dann noch Cousin Leonardo, Andrea Mantegna und wir zwei...genial hast du eine historische Begebenheit in unsere Zeit gesetzt. Und der Canale sieht in dieser Gegend noch genauso aus. Grandios! Sag aber, das soll nicht die Rialto-Brücke sein, wie bei Carpaccio?" Der Bruder kannte also das Vorbild! "Nein, ich wollte ihn nicht kopieren, sondern korrigieren! Die Scuola San Giovanni Evangelista, für die ich dieses Leinwandbild male, will eine natürliche Interpretation des Themas. Und mein Wasser scheint mir realistischer, kristallklar und trotzdem magisch! Was denkst du?" "Mir gefällt dein Fluchtpunkt besser, denn dieser lässt den Blick frei auf das Wunder. Carpaccio interessierte sich wohl eher für die kecken Begegnungen bei der Gondelfahrt!" Giovanni rückte Carpaccios Bild mit der Anspielung auf sein verpöntes Kurtisanen-Bild bewusst ins Lächerliche, wollte er seinen Bruder doch nicht als Nachahmer eines Schülers darstellen." "Weisst du übrigens, woher Carpaccio all die Vorlagen unseres Vaters hat?" Gentile ärgerte sich darüber, dass er dem Malerkollegen einst die Skizzen des Vaters gegeben hatte, die sich einst noch im Atelier befanden: Ansichten von der Lagune, von etlichen Palazzi und von der alten hölzernen Rialto-Brücke. "Ich werde dafür sorgen, dass er sie uns gibt", versprach Gentile seinem Bruder Giovanni.
Carpaccio aber sah diese Skizzen als sein Eigentum an. "Du willst die Zeichnungen zurück, die du mir als Lohn für die Malerei am Palazzo Ducale gegeben hast? Niemals! Das hättest du dir vorher überlegen sollen!" Vittore schlug die Tür des Ateliers zu, das er in aller Freundschaft betreten hatte. Gentile sass stumm am Tisch und dachte über die Dummheit nach, die er damals begannen hatte. Irgendwie musste er sie seinem Bruder beichten...Als Giovanni wenig später ins Atelier trat, legte Gentile den Arm um seinen Bruder, "ich muss dir etwas gestehen...", da stürmte Tiziano mit aufgeregter Miene in die bottega :"…habt ihr schon gehört, Barbarigo ist tot und man munkelt, Leonardo Loredan werde seinen Platz einnehmen." Was dies für Elena, die Schwester Loredans, bedeutete, konnte Giovanni nur allzu gut abschätzen. Gentile, der mitten im Satz unterbrochen worden war, liess seinen Bruder gehen, denn Giovanni hob nur noch einen Arm zum Gruss und war schon verschwunden.
***
Wie damals, vor etlichen Jahren, betrat er den Palazzo Loredan und sah zur hölzernen Decke empor. Warum hatte Loredan nach ihm rufen lassen? Wollte er seinen guten Ruf schützen und Giovanni zum Schweigen über den vorehelichen 'Ausrutscher' bewegen? Er hatte doch sicherlich die Ähnlichkeit zwischen Giovanni und Giovann Battista, ihrem gemeinsamen Sohn, längst erkannt.
Der alte Loredan betrat den Salone. "Lieber Maestro, setzten Sie sich doch!" Giovanni konnte sehen, dass er ein verschnürtes Paket bei sich trug. "Ich gebe Ihnen etwas zurück, was Ihnen gehört und fordere dafür etwas, das nur Sie uns schenken können! Bald ist die Wahl des neuen Dogen und mein Sohn Leonardo hat gute Aussichten, die Wahl, zu gewinnen." Giovanni wusste, dass Loredan unter dem Zehnerrat nur Freunde besass. "Also lieber Maestro, machen Sie mir die Ehre ein schönes repräsentatives Porträt von meinem Sohn zu erstellen, denn als Maler der innersten Gefühle sind ihre Bildnis Darstellungen in ganz Venedig von niemandem je übertroffen worden." Dabei öffnete er behutsam das Paket und überreichte Giovanni ein
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