Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
behalten.
*
Line saß am See und schaute auf das schillernde Wasser, in
dem sich die bunten Herbstblätter der umstehenden Bäume spiegelten.
Sie war zuerst sehr erschrocken, als sie aus dem Wasser
kommend aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Unterholz wahrgenommen hatte, die
nicht der Wind verursacht haben konnte. Aber dann hatte sie ihn erkannt und so
getan, als verscheuchte sie nur ein Insekt.
Warum beobachtete er sie, ohne sich erkennen zu geben?
Zunächst wollte sie ihn ansprechen, aber da sie vermutete, es könnte ihm
peinlich sein, ließ sie sich nichts anmerken und tat so, als wäre er gar nicht
da. Dabei spürte das Mädchen seine Blicke beinahe körperlich auf ihrer Haut,
aber merkwürdiger Weise war es ihr nicht unangenehm.
Seit der Begegnung am Brunnen vor ein paar Tagen hatte sich
etwas in ihr verändert. Sie fühlte sich unwiderstehlich zu diesem jungen Mann
hingezogen, obwohl sie ihn doch kaum kannte.
Wenn er sie mit seinen hellen, blauen Augen anschaute,
fühlte sie sich plötzlich hilflos und doch wollte sie keinen Augenblick ohne
ihn sein. Er beherrschte ihre Träume und schlich sich in ihre Gedanken, wo
immer sie auch war.
Ihre Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht waren sehr
begrenzt, sie beschränkten sich auf ihre medizinischen Kenntnisse, die ihr in
diesem Fall allerdings nicht weiterhalfen.
Es kam zwar häufig vor, dass die jungen Burschen aus den
Dörfern ihr hinterher pfiffen oder anzügliche Bemerkungen machten, aber diese
plumpen Annäherungsversuche hatte sie bisher immer ignoriert.
Niemals hätte sie gedacht, dass es ihr gefallen könnte, von
einem Burschen so angestarrt zu werden. Sie gestand sich sogar ein, dass sie es
genossen hatte und dabei eine nie gekannte Erregung spürte. War sie schamlos?
Und wenn schon. Sie war nicht wie andere Mädchen und wollte es auch nicht sein.
Schließlich hatte sie vor allem deshalb das Kloster
verlassen, weil sie sich nicht in eine enge Form pressen lassen wollte,
erdrückt von Regeln und Verboten.
Hier war sie frei und konnte tun und lassen, was sie wollte.
Sie musste daran denken, wie der alte Dorfpfarrer am letzten
Sonntag gegen die verderbliche Fleischeslust gewettert hatte. Aber wie sollen
die Menschen das Bibelgebot ‚Liebet und mehret Euch’ einhalten, wenn sie keinen
Gefallen aneinander fanden? Das leuchtete ihr nicht ein.
Fast bedauerte sie, dass der junge Ritter sich leise
zurückgezogen hatte. Sie malte sich aus, wie es wäre, wenn er zu ihr käme, um
sie in seine starken Arme zu nehmen.
Es wurde langsam Zeit, den Heimweg anzutreten. Line stand
auf und wollte sich auf den Weg machen, als sie vom Waldrand her Geräusche und
Stimmen hörte.
Noch nie war sie hier einem Menschen begegnet, abgesehen von
Conrad, der aber inzwischen längst verschwunden war. War er zurückgekommen?
Nein, das waren unverkennbar mehrere Personen, die da durch das Unterholz
stapften.
Schnell rannte sie über die Wiese, um den Waldrand am
anderen Ende der Lichtung zu erreichen, bevor man sie entdeckte.
Aber es war zu spät. Sie hörte einen Pfiff und schwere
Schritte hinter sich, die schnell näher kamen.
Ein Arm griff nach ihr, doch sie duckte sich unter ihm durch
und rannte weiter. Fast hatte sie den Wald erreicht, als ihr jemand von hinten
ein Bein stellte. Unter lautem Gelächter aus rauen Kehlen stürzte sie zu Boden.
Als sie sich umdrehte, standen vier Kerle um sie herum, die
nicht gerade sehr Vertrauen erweckend aussahen. Sie trugen Schwerter und Messer
sowie gesteppte Waffenröcke. Es mussten marodierende Soldaten sein, denn
normale Wegelagerer waren bestenfalls mit Knüppeln und Stöcken bewaffnet.
Schon griffen derbe Hände nach ihr. Sie schrie und schlug in
wilder Panik um sich, was die Kerle noch mehr belustigte.
„Sieh mal einer an“, lachte ein hoch aufgeschossener,
drahtiger Kerl mit hervortretenden Augen und Hakennase, der wohl der Anführer
der Bande war, „was haben wir denn da für eine Wildkatze.“
Ein vierschrötiger, untersetzter Kerl packte sie von hinten
und warf sie zu Boden. Sie schrie, kratzte und biss um sich, doch gegen die
starken Arme, die sie gepackt hielten, konnte sie nichts ausrichten. Er riss
ihr die Arme über den Kopf und hielt sie fest, während der Anführer sich auf
ihre Schenkel kniete, so dass sie sich kaum noch bewegen konnte.
Der Kerl mit den Glubschaugen griff ihr unter den Rock und
grunzte gierig, während der Vierschrötige ihr die Arme festhielt.
Der Anführer
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