Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
nichts erinnerte an die dramatischen Ereignisse, die sich am Vormittag hier
abgespielt hatten.
Das herunter getretene Gras begann sich bereits wieder
aufzurichten und nur der kleine Hügel frischer Erde am Waldrand zeugte davon,
dass hier die Leichen der Wegelagerer verscharrt waren.
Noch einmal schaute Conrad auf das silberne Wasser des Sees
hinaus und dachte daran, wie er hier Line beim Baden beobachtet hatte. Das war
erst einen halben Tag her und doch hatte sich seitdem alles verändert.
Obwohl der Winter nahte, mussten sie aufbrechen. In dieser
Jahreszeit brach kaum ein Kaufmannszug nach Norden auf, dem sie sich
anschließen konnten.
Es war ein großer Glücksfall, dass Sven mit zwei Pferden
aufgetaucht war. So konnten sie hoffen, ihr erstes Ziel im Odenwald zu
erreichen, bevor der Winter einbrach.
Conrad Reiz von Breuberg würde ihn mit offenen Armen
empfangen, dessen war er sich sicher. Sie konnten auf Burg Breuberg überwintern
und im Frühjahr endlich in die Heimat aufbrechen.
Wieder musste er an Constance denken, die ihn sicher
vermisste, ebenso wie sein Vater. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen.
Es war bereits Mittag, als Conrad bei Sven und Line
erschien, die ihm erwartungsvoll entgegen sahen. Aber er musste sie
enttäuschen, denn er kam mit leeren Händen.
Niedergeschlagen setzte er sich zu ihnen an das inzwischen
entfachte Lagerfeuer.
Es würde nicht leicht sein, sich unterwegs mit Nahrung zu
versorgen. Mit den paar Pfennigen, die Sven noch in seiner Geldkatze hatte,
mussten sie sehr sparsam umgehen. Ihre Waffen waren für die Jagd nicht
sonderlich geeignet und für die Herstellung eines einfachen Jagdbogens brauchte
man zumindest eine stabile Sehne, die sie nicht hatten.
„Ich reite noch mal los und hol ein paar Sachen“, sagte Sven
in die Stille hinein und unterbrach damit die Grübeleien seines jungen
Freundes. „Ich bin bis zum Abend zurück.“ Damit stieg er auf den Braunen und
galoppierte davon.
Conrad und Line blieb nichts anderes übrig, als auf seine
Rückkehr zu warten.
„Du sagtest, Grete war nicht deine Großmutter?“, fragte er
vorsichtig in die Stille hinein.
Line schaute zum Grab hinüber. „Ich habe sie immer so
genannt, weil sie mich bei sich aufgenommen hat, als wäre ich eine Verwandte.
Das war vor zwei Jahren. Sie nannte mich Kindchen und ich sagte Großmutter zu
ihr. Das hörte sie sehr gern. Genauso wie ich hatte auch sie keine Familie
mehr. Ich kenne meine Eltern nicht. Als ich drei oder vier Jahre alt war, fand
mich eine Nonne vor dem Kloster Wald.“
Dann erzählte Line ihre Geschichte. Sie erzählte von ihrem
Leben im Kloster, von ihrer Ausbildung als Heilerin, von Schwester Irmhilde und
wie sie schließlich nach ihrer Flucht aus dem Kloster bei der alten Wehmutter
Grete gelandet war. Es tat Line gut, dass er ihr zuhörte, ohne sie ein einziges
Mal zu unterbrechen.
Langsam wurde Conrad klar, warum Line Latein sprach. Sie war
im Kloster aufgewachsen.
„Auch Grete war früher Nonne im Kloster Wald gewesen“,
erzählte Line weiter, „in dieser Zeit waren sie und Irmhilde die besten
Freundinnen. Aber sie hat nie den Schleier genommen und verließ das Kloster
schon vor vielen Jahren.“
Line erzählte, wie sie sich damals im Kloster mit Irmhilde
und später auch mit Grete über die Lehren der griechischen Gelehrten und
berühmter Ärzte ausgetauscht hatte, die keine Christen waren, sondern Juden und
Moslems.
Im Auftrag der Reichsabtei Salem, dem das Kloster Wald unterstand,
wurden dort viele Schriften kopiert. Selbst der Bischof von Konstanz ließ hier
wertvolle Werke kopieren, um sie an andere Klöster zu verkaufen. Dadurch wuchs
auch die eigene Sammlung des Klosters ständig an.
So lernte Line, dass die meisten Krankheiten durch das
Ungleichgewicht der Säfte entstanden. Je länger Line darüber sprach, desto
lebhafter wurde sie. Geradezu begeistert sprach sie über die Vier-Säfte-Lehre.
„Hippokrates lehrt, dass Krankheiten durch das
Ungleichgewicht der Körpersäfte entstehen“, erklärte sie mit leuchtenden Augen.
„Er hat es Dyskrasie genannt. Heilen kann man die Krankheit, indem man das
Gleichgewicht wieder herstellt.“
„Körpersäfte?“, fragte Conrad Stirn runzelnd.
Jetzt war Line in ihrem Element. Conrad merkte, wie gut ihr
es tat, darüber zu reden. Es lenkte sie von den schrecklichen Erlebnissen der
letzten Stunden ab. So erfuhr er, dass man zwischen der schwarzen Galle, der
weißen Galle, Blut und Schleim
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