Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
erhobenen
Hauptes durch die Gassen. Diese stolze Haltung und die Tatsache, dass sie die
Avancen der jungen Burschen nicht erwiderte, brachte Line bald den Ruf der
Unnahbarkeit ein. Sie tat zwar, als bemerke sie die schmachtenden Blicke nicht und
ignorierte die neckenden Bemerkungen, aber im Stillen freute sie sich darüber
und warf manch heimliche Seitenblicke auf die jungen Burschen.
Dennoch war sie noch längst nicht bereit, auch nur eine
harmlose Tändelei mit einem der Burschen zu beginnen.
Einige Wochen waren vergangen, als Hubert Schindel ihr eines
Tages den Auftrag erteilte, ein paar Stoffballen in den Verkaufsraum zu
bringen. Arglos ging Line ins Kontor. Nach einigem Suchen fand sie den
bezeichneten flämischen Stoff in der äußersten Ecke auf einem der oberen
Regale.
Auf der bereit stehenden Klappleiter stieg sie ein paar
Sprossen hinauf, um an den Stoff zu gelangen.
Plötzlich war der Tuchhändler hinter ihr. Zunächst dachte
sie, es ginge ihm nicht schnell genug und er wollte sehen, wo sie bliebe. Als
er ihr aber plötzlich von unten unter den Rock griff, wäre sie vor Schreck
beinahe von der Leiter und dem geilen Kerl direkt in die Arme gefallen.
„Ich habe den Stoff gefunden, Herr, Ihr braucht mir nicht
helfen!“, rief sie sehr laut, um die Herrin aufmerksam zu machen, die nebenan
im Verkaufsraum stand.
Dann zerrte sie den Ballen vom Regal, drehte sich halb um
und ließ ihn einfach in die Arme des Tuchhändlers fallen.
Diesem blieb nichts anderes übrig, als von ihr abzulassen,
um den Ballen aufzufangen.
„Ich wollte dich bloß festhalten, damit du mir nicht von der
Leiter fällst“, zischte er böse, aber so leise, dass sein Eheweib es nicht
hören konnte.
„Danke, Herr“, erwiderte Line, die von der Leiter gestiegen
war. Sie nahm dem Tuchhändler den Stoff ab und trug ihn in den Laden, wo die
dicke Margret schon wartete. Obwohl sie innerlich zitterte, gelang es ihr,
äußerlich ruhig zu erscheinen.
Es entging ihr nicht, dass die Tuchhändlerin zuerst sie und
dann ihren Ehegatten skeptisch beäugte. Hubert Schindel versuchte, völlig
gelassen zu erscheinen, aber es gelang ihm nicht vollständig.
Von diesem Tag an war Line ins Fadenkreuz der Herrin
geraten. Die Tuchhändlerin tyrannisierte sie, wo sie nur konnte. Je mehr Line
versuchte, ihr alles Recht zu machen, desto mehr Aufgaben wurden ihr
übertragen. Die kleinsten Nachlässigkeiten wurden strengstens bestraft.
Seit einigen Tagen machte ihr zusätzlich ein junger Bursche
das Leben schwer, der hartnäckig versuchte, sie zu einem Stelldichein zu
überreden. Es handelte sich um einen großen, stattlichen Handwerksburschen
namens Caspar, der keine Gelegenheit ausließ, ihr zufällig über den Weg
zu laufen. Fast immer, wenn sie auf dem Markt eingekauft hatte, bot er sich an,
ihren Korb zu tragen.
Einige Male war sie darauf eingegangen und empfand seine
Begleitung sogar als angenehm, solange er ihr nur Komplimente machte und nicht
zudringlich wurde. Aber seine anfängliche Schüchternheit war bald verflogen.
Als Caspar eines Tages versuchte, ihr in einer Seitengasse
einen Kuss zu rauben, fing er sich eine Maulschelle ein.
Trotzdem ließ er sich nicht abweisen und tauchte immer
wieder überraschend auf. Inzwischen ging der heißblütige Bursche ihr auf die
Nerven und sie versuchte, ihm wenn möglich aus dem Weg zu gehen.
Caspar jedoch dachte nicht daran, das Mädchen in Frieden zu
lassen. Als sie ihn immer öfter abblitzen ließ, wurde er zunehmend aggressiver.
Immer öfter lauerte er ihr regelrecht auf und versuchte, sie in eine dunkle
Ecke zu ziehen.
Als Line ihm schließlich unmissverständlich klarmachte, dass
sie an ihm nicht interessiert war, verlegte er sich darauf, sie im Beisein
seiner Freunde zu verleumden. Er nannte sie die ‚Metze des Tuchhändlers’ und
rief ihr Schmähungen nach.
Eines Tages eskalierte die Situation. Line hatte gerade
einen Eimer Wasser vom Brunnen geholt, als sie hinter sich die Stimme Caspars
vernahm: „Aha, da ist sie wieder, die Unantastbare. Aber für den alten Schindel
macht sie die Beine breit.“
Line blieb dieses Mal keine Antwort schuldig. „Wenn du jedes
Mädel beschimpfst, bei dem du nicht landen kannst, musst du dich nicht wundern,
das keine was von dir wissen will.“
Seine Freunde lachten.
„Ach, tu doch nicht so“, entgegnete Caspar ätzend, „jeder
weiß doch, dass es dein Herr mit jeder seiner Mägde treibt.“ Nach einer kleinen
Pause setzte er hinzu: „Außer
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