Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
oder frieren. Alles andere würde sich
finden.
Noch am selben Tag betrat sie den Laden des Tuchhändlers,
der in einer Seitengasse lag, welche direkt zum Markt führte. Noch war ihr
rechter Knöchel nicht voll belastbar, aber Line humpelte nur noch ein wenig.
Der Laden war nicht groß. An den Wänden waren Regale mit
verschiedenen Stoffballen, rechts auf dem Ladentisch türmten sich Schleifen,
Bänder und Tücher sowie Schachteln mit Knöpfen, Spangen und Schnallen aus Holz,
Horn und Metall. Hinter dem Ladentisch stand eine korpulente, rotgesichtige
Frau, die Line skeptisch musterte.
„Was willst du?“, fragte die Dicke unfreundlich, beinahe
mürrisch. Natürlich sah sie sofort, dass sie keine gut betuchte Kundin vor sich
hatte.
„Ich wollte Herrn Schindel, den Tuchhändler sprechen“, sagte
Line mit einem höflichen Knicks und einem gezwungenen Lächeln.
„Der ist hier“, tönte es von der anderen Seite des Ladens,
bevor die unfreundliche Matrone etwas erwidern konnte. Line drehte sich um und
sah einen Mann mit einem Stapel Stoffballen in den Laden kommen. Ächzend legte
der auffällig dürre Tuchhändler seine Last ab.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte er deutlich
freundlicher als die Frau.
„Ich suche Arbeit“, antwortete Line, knickste noch ein wenig
tiefer und senkte schicklich den Blick. Dann sah sie auf und schenkte dem
Tuchhändler ihr strahlendes Lächeln, das niemals seine Wirkung verfehlte.
„Ich könnte eine Küchenmagd gebrauchen“, antwortete dieser.
„Kannst du kochen?“
„Ja, Herr.“
„Wann kannst du anfangen?“
„Wenn Ihr wünscht, sofort, Herr. Ich bin heute in der Stadt
angekommen und habe noch keine Unterkunft.“
„Hast du Empfehlungen? Wo hast du vorher gedient?“
Line sank das Herz.
„Ich, äh, ich habe keine Empfehlungsschreiben. Ich habe
nichts als das, was ich auf der Haut trage. Ich habe alles verloren“, sagte sie
kleinlaut. Dann setzte sie hoffnungsvoll hinzu: „Aber der Kaufmann Ellradt
sagte, Ihr sucht eine Magd.“
Der Tuchhändler hatte zunächst die Stirn gerunzelt, aber der
Name des Kaufmanns wirkte Wunder.
„Stadtrat Burghart Ellradt? Nun, wenn das so ist. Du kannst
bleiben, aber erst einmal zur Probe“, beschied er großzügig. „Wie heißt du?“
Line atmete auf. „Mein Name ist Caroline. Ihr könnt mich
Line nennen.“
„Gut.“ Eingehend musterte der dürre Tuchhändler sie von oben
bis unten, bis es Line peinlich wurde. Dann räusperte er sich.
„Das ist mein Eheweib Margret“, sagte er mit einem
Kopfnicken in Richtung der mürrischen Frau, „deine Herrin.“
Line knickste noch einmal.
Die Augen der drallen Frau pendelten von ihrem Ehemann zu
Line und ihre Blicke schienen sie durchbohren zu wollen. Aber sie sagte kein
Wort.
„Komm“, forderte der Herr sie auf. „Ich werde dich Essi
vorstellen.“
Die Blicke, die sein Weib ihnen hinterher sandte, stimmten
Line nicht gerade zuversichtlich, was die zukünftige Zusammenarbeit mit der
Herrin anging. Aber sie verdrängte alle Befürchtungen.
Wie sich herausstellte, war Essi, die eigentlich Esmeralda
hieß, die Köchin und mindestens genau so dick wie ihre Herrin. Hier schien es
also zumindest genug zu essen zu geben, dachte Line bei sich.
Zum Glück war Köchin Essi ganz im Gegensatz zu ihrer
griesgrämigen Herrin eine Seele von Mensch.
Sie nahm das Mädchen sofort unter ihre Fittiche und zeigte
ihr eine kleine Kammer im Dachgeschoss, in der sie wohnen konnte. Es war nicht
mehr als ein Bretterverschlag, aber Line war sehr froh, ein Bett für sich
allein zu haben. Die bescheidene Einrichtung bestand aus einem schmalen Bett,
einem wackligen Schemel und einer klobigen Holztruhe.
Line legte ihre Umhängetasche auf die Truhe. Es war noch
immer dieselbe Ledertasche, die sie seit ihrer Flucht aus dem Kloster bei sich
trug. Seitdem waren keine drei Jahre vergangen, aber ihr kam es vor wie eine
Ewigkeit. Das Klosterleben lag in ihrer Erinnerung so lange zurück, als wäre es
in einem vorherigen Leben gewesen.
Die Köchin stellte die Neue der Dienerschaft vor. Es gab
noch eine weitere Magd, die erst dreizehn Jahre alte schmächtige Mara, welche
die Kammer neben Line bewohnte und einen stämmigen Knecht Namens Bertholdt, den
alle Berti nannten.
Im Gegensatz zur Herrin fand Line das Gesinde
außerordentlich sympathisch, selbst den wortkargen Berti.
Die ersten Tage bei ihrem neuen Arbeitgeber waren für Line
alles andere als leicht. Sie musste sich erst wieder daran
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