Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
man
verschleppt.
Verzweifelt klammerte sie sich noch immer an die Hoffnung,
Conrad hätte sich vor den vier Kerlen irgendwie retten können. Sie stellte sich
vor, Conrad läge irgendwo verletzt im Wald und bräuchte ihre Hilfe.
Vorsichtig erhob sich Line von ihrem Krankenlager. Sie
musste etwas tun. Als das Mädchen ins Freie trat, kam ihr vom Waldrand her eine
schwankende Gestalt entgegen. Sofort beschlich sie ein ungutes Gefühl und im
nächsten Moment erkannte sie den hässlichen Kerl mit den Froschaugen. Ihr Herz
krampfte sich zusammen. Schreckensstarr blickte sie in die hervortretenden
Augen ihres Peinigers, der sie vor ein paar Monden beinahe vergewaltigt hatte.
In ihren Rockfalten tastete Line nach ihrem Kräutermesser,
das sie immer bei sich trug.
Rupert stolperte auf sie zu und erstarrte ebenfalls, als er
sie erkannte.
„Hexe“, röchelte er mühsam. Er ging vornüber geneigt und
presste sich die Hände auf den Bauch. Blut sickerte zwischen seinen Fingern
hervor. Line sah sofort, dass er die Verletzung nicht überleben würde. Aber sie
spürte keine Genugtuung. Sie umklammerte den Messergriff, war aber zu keiner
Bewegung fähig.
Trotz der Schmerzen machte sich nach dem ersten kurzen
Erschrecken ein fieses Grinsen auf dem Gesicht des Schurken breit. „Na, Liebchen“,
krächzte er, „dein Ritter hat mich ganz schön übel zugerichtet…“
Hoffnung keimte in Line auf. Conrad hatte den Kerl verletzt.
War er entkommen? Die Lippen des Mädchens formten sich zu einer Frage, aber sie
brachte keinen Laut heraus.
„Der Kerl hat alle meine Männer getötet…“, sprach Ruprecht
stoßweise und abgehackt weiter, „…bevor ich ihm die Kehle aufgeschlitzt habe.“
Ruprecht weidete sich an der Reaktion des Mädchens, sah das
Entsetzen in ihren Augen und empfand tiefe Genugtuung. Das war seine letzte
Rache. Er lachte rau, dann krümmte er sich zusammen und stöhnte auf vor
Schmerz.
Line starrte ihn an. „Ich glaube dir kein Wort, du
Scheusal“, sagte sie fest. Aber es klang nicht so überzeugend wie sie es
beabsichtigt hatte. Ihr schwindelte, doch sie hielt sich tapfer aufrecht. Vor
diesem Kerl wollte sie keine Schwäche zeigen.
Rupert lachte trotz seiner Schmerzen erneut freudlos auf.
„Warum sollte ich lügen, Hexchen? Im Angesicht des Todes?“
Triumphierend stellte er fest, dass seine Worte wirkten.
Line wurde leichenblass und hielt sich an der rauen Wand fest, um nicht
zusammenzubrechen.
Alles in ihr schrie danach, sich auf den verfluchten Kerl zu
stürzen und ihn zum Schweigen zu bringen, als könne sie dadurch das Schicksal
ändern.
Aber noch immer war sie wie gelähmt. Außerdem war der Mann
ohnehin schon fast tot. Line atmete tief durch.
„Du bist ein Lügner“, sagte sie ruhig und bestimmt, „ich
sollte dich erstechen, aber das wäre ein zu schneller Tod für dich. Du wirst
elendig verrecken und in der Hölle schmoren, bis ans Ende aller Tage.“
Damit drehte sie sich um und ging. Sie wusste, dass sie
Recht hatte, was die letzten Worte anging. Solch eine Verletzung überlebte
niemand. Der Wundbrand würde ihn töten, wenn er nicht schon vorher an dem
Blutverlust starb. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte und sich bis
hierher schleppen konnte.
Wie eine Holzpuppe ging Line über den Hof, mit leerem Blick
und ohne ein Ziel zu haben. Ein paar Schritte schaffte sie noch, dann brach sie
zusammen. Wäre nicht gerade in diesem Moment der Prior aufgetaucht, der zu ihr
eilte und sie stützte, wäre sie einfach auf den Boden gefallen.
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur eines ging ihr
immer wieder durch den Kopf: er ist tot, er ist tot. Ihr Leben hatte keinen
Sinn mehr.
Was sollte sie jetzt tun? Wenn sie zurück zum Lager ging,
tötete man sie ganz sicher. Auch Constance würde sie nicht schützen können.
Wer konnte ihr helfen? Wer würde ihr glauben? Bella, Martin,
Li Chan? Wirre Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf und überschlugen sich.
Der Prior brachte sie in sein Arbeitszimmer, wo sie sich
teilnahmslos auf einen Schemel fallen ließ.
Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
„Es tut mir leid“, sagte er. Die letzten Worte Ruperts
musste er mitgehört haben. „Das Schicksal hat dir übel mitgespielt, meine
Tochter. Aber du bist am Leben.“
„Und was soll ich jetzt mit meinem Leben anfangen? Ich hätte
nicht fliehen sollen, dann wäre ich jetzt vielleicht in einer besseren Welt.“
Dann wäre ich jetzt bei ihm, dachte sie.
„Versündige dich nicht,
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