Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
meine Tochter“, mahnte der Prior
streng. „Wenn du noch lebst, dann deshalb, weil unser Herr noch etwas vor hat
mit dir.“
„Und was soll das sein? Er hat mir jeden Menschen genommen,
der mir je etwas bedeutet hat. Vielleicht bin ich ja verflucht, dass jeder
sterben muss, der mir zu nahe kommt.“
Der Prior bekreuzigte sich. „Du bist verzweifelt und
verbittert, meine Tochter, du weißt nicht, was du redest.“
Line sank in sich zusammen und begann zu weinen.
„Du solltest etwas essen, Tochter“, sagte der Prior
bestimmt.
Line spürte keinen Hunger und schüttelte den Kopf, aber
Bartolomäus rief einen jungen Laienbruder herbei und trug ihm auf, etwas aus
der Küche zu besorgen.
Kurz darauf brachte dieser eine Schale mit Brei und einen
Becher mit verdünntem Bier. Line glaubte, keinen Bissen herunter zu bekommen,
aber um den Prior nicht zu verprellen, nahm sie den Löffel und aß etwas von dem
Hirsebrei.
Geduldig sah Bartolomäus ihr zu. Stoisch wartete er, bis sie
alles aufgegessen hatte.
„Du kannst nicht hierbleiben“, sagte er ernst, „Frauen
werden bei uns nicht geduldet.“
Line nickte. Dann kam ihr eine Idee. „Aber ich könnte doch
bei der Krankenpflege helfen. Ich verstehe mich darauf.“
„Das will ich gern glauben, aber es geht nicht. Wir sind ein
Mönchskloster.“
Bartolomäus sah ihre Verzweiflung und seufzte. „Ich würde
dir gern helfen, aber ich kann nicht viel für dich tun.“
Line nickte nur niedergeschlagen.
Der Prior kratzte sich am Kinn und sah sie eine Weile
skeptisch an.
„Es gibt da einige Rätsel für mich“, sagte er nachdenklich,
„du sagst, du warst in diesem Lager, bei Leuten, von denen du nicht mehr weißt
als den Namen. Du weißt nicht, wo sich der Landsitz dieser Familie von der Lühe
befindet, mit der du gereist bist. Du wurdest gejagt. Und nun taucht ein
Verletzter auf, der offenbar ein Mörder ist. Erkläre mir bitte, was ich davon
halten soll.“
Das Mädchen schluckte. Wie sollte der Prior wissen, ob nicht
auch sie ein Verbrechen begangen hatte.
„Wo soll ich anfangen?“, fragte sie etwas unsicher.
„Am Anfang“, erwiderte der Prior ruhig und sah sie
erwartungsvoll an.
Line sah in die aufmerksamen, klugen Augen des Priors und
hatte das Gefühl, ihm alles anvertrauen zu können. Eine Weile rang sie noch mit
sich. Aber sie hatte plötzlich den unbändigen Wunsch, diesem Menschen
bedenkenlos ihre Seele zu öffnen. Was konnte es schaden?
Also erzählte sie ihm ihre Geschichte, von ihrem Leben im
Kloster, den Jahren bei Grete, von der Reise mit Conrad und seinen Freunden,
ihrer törichten Flucht und deren fatale Folgen und schließlich die Begegnung
mit dem Ritter Arnulf. Nur ihre Liebe zu Conrad und ihre körperliche
Vereinigung erwähnte sie nicht.
Bartolomäus zog einige Male die Stirn kraus, unterbrach sie
aber nicht und hörte geduldig zu.
Als Line geendet hatte, sackte sie sichtlich in sich
zusammen.
„Was soll ich nur tun?“, fragte sie leise, ohne eine Antwort
zu erwarten.
Dann richtete sie sich gerade auf. „Ich werde Constance
sagen, wer ihren Bruder auf dem Gewissen hat. Und wenn es das Letzte ist, was
ich tue.“
Eine Weile dachte der Prior nach, dann schaute er Line in
die Augen und sagte eindringlich: „Auch wenn dieser Ritter, den man erschlagen
hat, dir viel bedeutet hat, meine Tochter, du solltest seine Schwester nicht
suchen.“
„Aber sie muss doch wissen…“, wollte Line aufbegehren.
„Was geschehen ist, ist geschehen. Selbst wenn du den
Herrensitz derer von der Lühe finden solltest, was willst du dann tun? Gesetzt
den Fall, man erwischt dich nicht, bevor du mit der Herrin Constance sprechen
kannst, was hättest du dann gewonnen?“
Seine klugen Augen fixierten sie, dann sprach er
eindringlich weiter: „Diese Constance ist mit dem Mörder ihres Bruders
verheiratet. Was nützt es ihr zu wissen, dass er ein Monster ist? Sie kann
nichts gegen ihn unternehmen, denn es stünde das Wort eines Ritters gegen das
eines einfachen Mädchens.“
„Aber ich kann doch nicht zulassen, dass dieser Mordritter
ungeschoren davonkommt!“, begehrte Line auf.
„Mein ist die Rache, sagt der Herr. Er wird die Tat nicht
ungesühnt lassen. Manchmal ist es besser, einfach zu vergessen und in die
Zukunft zu blicken. Auf dem Herrenhof des erschlagenen Ritters, der jetzt
seinem Mörder gehört, bist du nicht sicher. Hast du keine Verwandten in der
Gegend?“
„Ich habe keine Verwandten“, entgegnete sie
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