Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
ohne sich
noch einmal umzusehen.
Eine Weile stand Line unschlüssig da. Dann machte auch sie
sich auf den Weg. Sie wollte im Zickzack laufen und dabei ein möglichst großes
Gebiet absuchen. Sie verließ sich einfach auf ihr Glück und auf ihr Gefühl.
Es wurde wirklich ein herrlicher Sommertag. Wenn sich die
wenigen am Himmel schwebenden Wolken nicht langsam bewegen würden, hätte man
meinen können, ein Maler habe sie auf den blauen Himmel getupft.
Aber Line hatte keine Augen für die Schönheit der Natur und
keine Ohren für den Gesang der Vögel. Sie war schon ein ganzes Stück vom
Kloster entfernt, als sie auf einen kleinen Bach stieß, der sich gurgelnd durch
den Buchenwald schlängelte. Durstig kniete sie nieder, schöpfte mit den Händen
das kristallklare Wasser und stillte ihren Durst. Es schmeckte leicht
mineralisch und war köstlich erfrischend.
Ein Stück weiter stieß sie mitten im dichten Wald auf einen
kreisförmigen Hügel, der sich sanft erhob und sie magisch anzog. Sie erklomm
die Kuppe, in der sich eine kleine Senke befand. Der Hügel bildete einen fast
perfekten Kreis, so dass er kaum natürlich entstanden sein konnte. Als sie sich
umsah, entdeckte sie nicht weit entfernt noch zwei weitere ähnliche Hügel. Line
wusste nicht, dass es sich um steinzeitliche Hügelgräber handelte, aber sie
spürte deutlich die mystische Kraft, die von diesem Ort ausging.
Im Gegensatz zu anderen Mädchen hatte Line niemals Angst vor
dunklen Wäldern verspürt. Das lag vor allem daran, dass die Mütter anderer
Kinder ihnen von klein auf Schauermärchen erzählten, um sie davon abzuhalten,
allein in den Wald zu laufen.
Aber Line kannte keine besorgte Mutter und sie hatte lange
Zeit im Wald gelebt. Er war ihr Freund. Sie fürchtete keine Waldgeister oder
Dämonen, die hier ihr Unwesen treiben sollten. Selbst in völliger Dunkelheit
fühlte sie sich im Wald geborgen. Sie wusste, dass die manchmal unheimlich
anmutenden Geräusche und das Geraschel im Unterholz nicht von Waldgeistern,
sondern von nachtaktiven Tieren stammten.
Tief atmete Line die vertraute Waldluft ein und kniete sich
beinahe andächtig in die sanfte Mulde auf der Hügelkuppe. Sie richtete ihr
Gesicht zum Himmel, der blau durch die Baumkronen schien und betete halblaut
zur Jungfrau Maria. „Ave Maria, gratia plena. Dominus tecum, Benedicta tu in
mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Iesus. Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae. Amen.”
Wie zur Bekräftigung wiederholte sie alles noch einmal in
deutscher Sprache: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit
dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines
Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes. Bitte für uns Sünder, jetzt und in
der Stunde unseres Todes. Amen.“
Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre blasse Wange.
„Bitte mach, dass alles wieder gut wird und lass mich Conrad
finden.“
Ihre Vernunft wollte ihr einreden, dass die Suche nach
Conrad unvernünftig und sogar gefährlich war. Sie war völlig mittellos und
außer ein paar Beeren, die sie vielleicht im Wald fand, hatte sie keinerlei
Nahrung. Wenn die Nacht hereinbrach, würde sie völlig schutzlos sein. Es war
dumm, nicht mit den Mönchen gegangen zu sein. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sie würde Conrad finden oder bei dem Versuch umkommen.
Erst wenn es keine Hoffnung mehr gab, wollte auch sie
sterben. Der Tod hatte für sie seinen Schrecken verloren, denn ein Leben ohne
Conrad konnte sie sich nicht mehr vorstellen.
So betete Line auf dem heidnischen Hügelgrab und bat die
Jungfrau Maria um ein Zeichen. In ihrer Verzweiflung rief sie sogar die alten
Götter an, deren Namen längst in Vergessenheit geraten waren, aber deren
Gegenwart sie an diesem mystischen Ort noch immer zu spüren glaubte.
Wie zur Antwort erhob sich plötzlich ein Rauschen hoch über
ihr in den Baumwipfeln.
Dann raschelte es vor ihr im Unterholz. Ein dunkler,
schwerer Körper bahnte sich geräuschvoll seinen Weg durch das dichte Unterholz
und kam schnell näher. Dann brach ein borstiger, großer Keiler am Fuße des
Grabhügels zwischen den Büschen hervor und blieb nur ein paar Ellen von ihr
entfernt stehen.
Line betrachtete das kräftige Tier mit den gefährlichen
Hauern, die auch erfahrenen Jägern zum Verhängnis werden konnten. Merkwürdiger
Weise verspürte sie keine Angst und dachte nicht an Flucht, obwohl das Herz ihr
bis zum
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