Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
Halse schlug. Furchtlos schaute sie dem Tier in die kleinen Knopfaugen,
die sie unbewegt musterten.
Das mächtige Tier hob den Kopf, als wolle es Witterung
aufnehmen, dann grunzte es und wandte sich ab, um seinen Weg fortzusetzen. Noch
einmal blieb der Keiler stehen und sah sich um. Wieder warf er den Kopf hoch.
Line kam es wie eine Aufforderung vor, ihm zu folgen.
Kurz darauf verschwand das Tier in den raschelnden Büschen.
Noch ein paar Mal sah Line das borstige Fell zwischen den Blättern auftauchen,
dann war der Keiler verschwunden, als wäre er nur ein Spuk gewesen.
Hatten die alten Götter sie erhört und ihr dieses Tier
geschickt, um ihr den Weg zu weisen? War es Freya, die germanische Göttin der
Liebe gewesen? Oder hatte die heilige Jungfrau sie erhört?
Ob es nun so war oder nicht, Line stand jedenfalls auf und
klopfte sich das Laub vom Kleid. Dabei merkte sie nicht, dass ihr etwas aus der
Rocktasche fiel und in der Mitte der Mulde liegen blieb.
Vorsichtig folgte sie den Spuren des Keilers.
Niedergetrampelte Büsche und abgebrochene Äste wiesen ihr den Weg. Auch als das
Buschwerk sich lichtete, konnte sie der Fährte im weichen Waldboden leicht
folgen. Einmal sah sie den Keiler sogar wieder, als er sich genussvoll in einer
Schlammpfütze suhlte, um danach seinen Weg ohne Eile fortzusetzen.
Den ganzen Tag irrte Line durch den Wald, immer den Spuren
des Tieres folgend. Jedesmal, wenn der Keiler sich an einer Baumwurzel zu
schaffen machte oder aus einem Bach soff, blieb sie in sicherer Entfernung
stehen, bis er seinen Weg fortsetzte. Schließlich brach die Dämmerung herein
und Line musste ihre Verfolgung aufgeben.
Resigniert setzte sie sich auf einer kleinen Lichtung ins
Gras. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie war, außerdem verspürte sie
Hunger und Durst.
Unterwegs war sie mehrmals an einem Bach vorbei gekommen und
hatte getrunken. Vielleicht war es sogar immer derselbe gewesen. Aber das war
schon einige Stunden her und sie besaß keinen Wasserschlauch, den sie hätte
füllen können. Das Mädchen überlegte, ob sie zum Bach zurückgehen sollte, aber
sie fürchtete, den Weg bei der zunehmenden Dunkelheit nicht zu finden. Außerdem
fühlte sie sich zu erschöpft.
So gut es ging, machte sie sich ein Lager aus Blättern und
Gras. Müde ließ sie sich nieder, wickelte sich in ihren Mantel und schlief
erschöpft ein. Von Alpträumen verfolgt wälzte sie sich einige Stunden hin und
her und fiel immer wieder in einen leichten Schlaf.
Der Ruf eines Käuzchens und etwas Warmes, Feuchtes auf ihrer
Wange ließ sie aufschrecken. Desorientiert sah sie sich um. Zunächst wusste sie
nicht, wo sie sich befand. Träumte sie noch oder war sie wach?
Es war so dunkel, dass sie kaum etwas sehen konnte. Über
sich sah sie zwischen den Baumkronen ein Stück Himmel, das vom Mond schwach
erleuchtet wurde. Plötzlich verschwand ein Teil davon und wurde von einem
dunklen Gegenstand verdeckt, der sich über ihr Gesicht schob. Der Keiler, war
ihr erster Gedanke.
Ein Jaulen, gefolgt von einem lauten Bellen riss sie
vollends aus ihren Träumen.
„Lupus!“, entfuhr es ihr. Der Wolfshund antwortete mit
freudigem Gebell.
„Du hast mich gefunden“, krächzte Line. Ihre Kehle war wie
ausgetrocknet. Glücklich umarmte sie ihren zotteligen Freund. Tränen liefen ihr
über die Wangen.
Der Wolfshund legte sich neben sie. Line legte einen Arm um
ihn und wärmte sich an seinem dichten, weichen Fell.
So schlief sie schließlich wieder ein.
Als sie am Morgen erwachte, regte sich auch Lupus, als hätte
er nur darauf gewartet.
Unsicher sah sie sich um und stand auf. Der Wolfshund lief
wie selbstverständlich voraus und sah sich ab und zu nach ihr um, als wolle er
sich vergewissern, dass sie ihm auch folgte.
Dem Mädchen war es recht, dass Lupus die Führung übernahm,
da sie ohnehin die Orientierung verloren hatte. Schon nach kurzer Zeit hörte
sie zu ihrer Freude das Plätschern von Wasser. Vielleicht war es wieder
derselbe Bach, ihr war es egal. Durstig stillte das Mädchen ihren Durst. Lupus
tat es ihr nach. Line wusch sich in dem flachen Wasserlauf und setzte ihren Weg
fort, wobei sie dem treuen Wolfshund wieder die Führung überließ.
Das Tier führte sie immer tiefer in den Wald hinein. Seit
Line das Kloster verlassen hatte, war ihr keine Menschenseele begegnet. Nicht
einmal auf einen Weg war sie gestoßen, nur auf einige Wildpfade. Den ganzen Tag
irrte sie im Wald herum, immer dem Wolfshund folgend, der immer
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