Das Mysterium der Zeit
stören, aber ich habe das Licht gesehen …«, erklärte ich.
Naudé rang mühsam nach Atem.
»Kein … keine Ursache«, sagte er mit hauchdünner Stimme, »aber ich bitte Euch, kündigt Euch beim nächsten Mal mit einem leisen Geräusch an, mit einem Husten vielleicht.«
Ich kam näher und betrachtete die Papiere, die er wieder einsammelte.
»Ich glaube, ich habe eine interessante Entdeckung gemacht«, sagte er mit tonloser Stimme.
»Ach, wirklich?« Bei diesen Worten stieß ich versehentlich an einen Krug, der auf einem Schemel stand, worauf der Krug zu Boden fiel und zerbrach.
»Seid doch vorsichtig, verflixt! Wollt Ihr alle aufwecken?«, zischte Naudé außer sich.
Ich bat ihn demütig um Vergebung für meine Unvorsichtigkeit. Der Bibliothekar spitzte die Ohren, aber niemand schien aufgewacht zu sein. Er reichte mir die Blätter.
|272| Das erste war ein Stück Papier, das genauso aussah wie jenes, das Naudé zusammen mit der Inselkarte in der Torre Vecchia gefunden hatte. Nur las man hier statt des Buchstabens f ein anderes Zeichen:
»Ich vermute, dahinter steckt das Mädchen«, sagte ich. »In der Torre Vecchia hat sie die Karte und das f hinterlassen, hier finden wir ein s. Natürlich ist noch nicht klar, warum.«
»Ihr habt recht, Signor Secretarius, das hat sicher mit der wunderlichen Frau zu tun«, sagte Naudé leicht enttäuscht.
Die Karte, die Naudés blühende Phantasie zunächst mit Philos Ptetès verbunden hatte, brachte ihn jetzt zu dem weit weniger interessanten Mädchen aus der Festung zurück.
Aber es gab noch viel mehr. Naudé zeigte mir die anderen Funde: einen Stapel dicht beschriebener Blätter.
»Es ist dieselbe Handschrift wie auf dem Zettel mit den Notizen über Lykurg, den wir im Turm gefunden haben«, stellte ich fest.
Naudé nickte schweigend.
Das Dokument begann mit einer Art detailliertem Index von Zitaten antiker Historiker, dem einige bissige Bemerkungen vorausgingen. Ungewöhnlich war, dass der Autor von sich in der dritten Person sprach. Er verbarg sich hinter dem Pseudonym Orestes, einem Namen, den er sogar auf Altgriechisch geschrieben hatte.
NOTIZ
Darin die Historiker der Antike sich erneut blamieren.
ist überzeugt, dass die Menschheit, wenn sie nicht so dumm, das heißt, leichtgläubig wäre, den Druckern nicht so schnell auf |273| den Leim gehen würde. Die antiken Schriftsteller erwarben bei der Nachwelt so großes Ansehen, dass das
ipse dixit
fast zu genügen scheint. Dieser oder jener große Autor hat dies oder jenes gesagt, also ist es wahr und man forsche nicht weiter nach. Und so werden ihre GOTTESLÄSTERUNGEN oder Lügen, die nach Rache vor dem Herrn schreien, bewundert, zitiert und transkribiert, um bei den Schwachköpfen der Nachwelt großes Erstaunen hervorzurufen.
Außerdem gibt es unzählige Menschen, die, wie Seneca sagte,
more pecundum, quo itur, non quo eundum est
leben und handeln, also wie die Schafe, die dorthin gehen, wo alle hingehen, nicht dorthin, wohin man gehen sollte.
Andererseits kannkaum glauben, dass jene antiken GOTTESLÄSTERER wirklich dachten, die Nachwelt würde ihre GOTTESLÄSTERUNGEN schlucken. Diese Geschichtchen erscheinen mir eher wie absichtliche Scherze von jemandem, der sich einen Spaß daraus gemacht hat, sie mit akademischem Ernst zu erzählen und mit wohlklingenden Autorennamen zu versehen, wie Herodot oder Livius, von denen vielleicht nur der zehnte Teil dessen, was wir haben, echt ist, oder vielleicht gar nichts. Ein paar kleine Beispiele:
Nach Cicero sind die Völker, die an den Wasserfällen des Nils wohnen, allesamt taub.
Nach Herodot riss Demokrit sich die Augen aus, um besser nachdenken zu können, wie einige sagen, oder um den Frauen nicht mehr nachzuschauen, wie andere sagen.
Nach Herodot trockneten die Flüsse aus, wenn der König Xerxes mit seinem riesigen Heer hindurchzog.
Nach Valerius Maximus zerschnitt der wunderschöne Jüngling namens Spurina sich selbst das Gesicht, um die Frauen nicht zu unsittlichen Gedanken und Taten zu verführen.
Nach Plutarch, Valerius Maximus und Velleius Paterculus hielt Marc Anton mit seiner Redegabe die Soldaten zurück, die ihn töten sollten, während Hegesias andere Soldaten dazu brachte, sich selbst zu töten.
|274| Nach Diodor legen sich in Korsika die Männer anstelle der Frauen ins Bett, nachdem diese entbunden haben, und in Ägypten führen Frauen die Geschäfte, und ihre Ehemänner weben.
Nach Pomponius Mela gab es Völker, die anfangs nicht wussten, was Feuer
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