Das Mysterium der Zeit
war. Es musste der Rais sein, der Anführer des Piratenschiffs. Er hatte sich jetzt zum Achterkastell begeben. Von meinem Versteck aus konnte ich ihn nicht mehr sehen, doch mich erreichten Worte und Geräusche. Er klopfte an die Eingangstür.
»Chi dort? Venir aus dem Haus!«
Die Korsaren ringsumher lachten aus vollem Halse. Doch der Anführer knurrte etwas, alle verstummten, und man hörte einen Büchsenschuss. Dann wieder Gelächter und Gelärm, das Geräusch einer zerbrechenden Bretterwand, Stimmengewirr, jemand, der Französisch sprach.
Auch vom anderen Ende des Schiffes ertönten ein paar Schüsse aus Feuerwaffen, während der Rais seinen Männern, die am Heck standen, Befehle gab:
»Mustafa, du descend, et tout de suite zurück! Franzos bereit per prisonnier.«
Ein Jubelgeschrei der Marodeure bestätigte meinen ersten Eindruck: Die französische Mannschaft, an Zahl den Piraten dramatisch unterlegen, hatte sich kampflos ergeben. Offiziere und Matrosen, die sich im Kastell am Heck verschanzt hatten, waren mit erhobenen Händen herausgekommen, als die Korsaren das Türschloss aufgebrochen hatten.
Die Franzosen taten gut daran. Wie ich geahnt hatte, hatten die türkischen |99| und arabischen Galeerensklaven auf unserem Schiff schon gemeutert, bevor es geentert wurde, und sich natürlich sofort auf die Seite unserer Eroberer geschlagen. Wahrscheinlich hatten sie zunächst nicht mehr mit voller Kraft gerudert, als unsere Galeere den Barbaresken zu entkommen versuchte.
Zwischen Siegern und Besiegten entstand ein hitziger Wortwechsel. Danach hörte ich, wie die französischen Offiziere ihrer ganzen Mannschaft mit lauter Stimme befahlen, keinen Widerstand zu leisten und sämtliche Waffen auszuhändigen. Undeutlich meinte ich auch zu verstehen, dass jemand den Barbaresken das Versteck der Passagiere im Kielraum verraten hatte. Sicherlich war sofort jemand hingelaufen, um zu überprüfen, ob es unter ihnen kostbare Beutestücke gab (Künstler, Gelehrte, Leute der oberen Stände), die zu einem guten Preis verkauft oder gegen eine hohe Summe Lösegeldes freigelassen werden konnten.
Nunmehr lag unser aller Leben in den Händen des Anführers der Korsaren. Was war das für ein Mensch? Erbarmungslos, impulsiv und blutrünstig wie so viele der Barbaresken? Oder war er vernünftiger und imstande, den erzielten Vorteil mit Überlegung zu nutzen?
Bebend vor Angst, dachte ich an dein Schicksal, mein Atto, das in diesem Augenblick in Gottes Hand lag. Die Sozzifanti, deine Herren, hatten dich mir anvertraut, und sie waren beide Cavalieri des ruhmreichen Ordens Santo Stefano, der auf See die Ungläubigen und die Piraten bekämpft. In Pistoia hatte ich im Haus der Sozzifanti dutzende Berichte über die ruchlosen Taten der Barbaresken gehört und wunderte mich darum nicht über das grobe Gebaren des Anführers unserer neuen Herren, der jetzt wieder dicht an mir vorbei über die Stelling lief, gefolgt von seinen Männern. Einer seiner Getreuen, ein junger Lockenkopf, flüsterte ihm etwas ins Ohr, was sein Herr gleich darauf wiederholte, wie um es sich gut einzuprägen. Es war die Liste der Passagiere:
»Drei Franzosen, ein Deutscher. Sehr gut«, wiederholte der Korsar zufrieden. Nachdem er auf den Boden gespuckt hatte, knurrte der Anführer einen letzten Kommentar zum Abschluss der Liste, die ihm der Lockenkopf vorgetragen:
»Zwei Toskaner, ein Venezianer, ein Römer. Scheißpack.«
Die Aussprache ließ keinen Zweifel zu: Das Oberhaupt der Korsaren war ein Italiener.
|100| DISKURS XIII
Darin die Redegabe der Korsaren offenbar wird und man einem Willkommensritual beiwohnt.
Eilig wurden wir alle in den Kielraum gebracht, wo wir bis zum Tagesanbruch eine kurze Ruhe halten sollten. In wechselnden Schichten wurden wir von den Korsaren bewacht, die uns unter Androhung von Strafen zwangen, Mund und Augen geschlossen zu halten. So fielen wir alle wohl oder übel in einen dumpfen, von Angstträumen erfüllten Schlaf.
Im Morgengrauen mussten wir uns alle auf dem Deck versammeln, und man teilte uns in Gruppen auf. Wir Passagiere wurden von den Barbaresken mit ebenso faszinierten wie habgierigen Blicken angestarrt, als wären wir seltene Tiere im Käfig. Die Behandlung war nicht übermäßig grob, wir wurden zwar hierhin und dorthin gestoßen, aber nicht geschlagen. Rosina dagegen wurde mit allem Respekt behandelt, und bald sollten wir verstehen, warum. Nur Guyetus erging es schlecht: Er hatte es gewagt, einen der Korsaren mit einem
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