Das Mysterium: Roman
Margret«, und wies auf die anderen. »Ich heiße Diemut.
Ihr seid neu in der Stadt?«
»So ist es. Heute erst aus Augsburg angereist.«
»Ihr kommt aus Augsburg?«
»Meine Damen!« Er rollte die Augen. »Das war nur ein Zwischenaufenthalt. Ich komme aus Frankreich.«
Sie lachten. Unter dem Tisch rührte eine Frauenhand wie versehentlich an sein Bein. Margret sagte: »Das war mir völlig klar,
daß jemand aus Augsburg nicht so wunderbar modern gekleidet sein könnte. Ist das ein Jaquette, das Ihr da tragt?«
»In der Tat.«
»Darf ich einmal den Stoff …?« Ohne seine Antwort abzuwarten, befühlte sie seine Schulter. »Seidenbrokat?«
»Mit Goldfäden durchwirkt, ja. Es gibt da einen fabelhaften Schneider in Paris, den ich gern von Zeit zu Zeit beauftrage.
Woher er seine Stoffe hat, weiß ich allerdings nicht zu sagen.«
Die Cousinen warfen sich Blicke zu. »Und welcher Silberschmied hat Euren Dupsing hergestellt?« fragte Dorothea.
»Das weiß ich nicht. Er ist ein Geschenk.«
|271| »Ihr bekamt ihn von einer jungen Frau, nehme ich an?« Margret schob in gespielter Enttäuschung die Unterlippe vor.
»Könnt Ihr den langweiligen Herren in München nicht beibringen, wie man sich in Frankreich jetzt kleidet?« fragte die Jüngste,
Diemut, und legte ihren Fuß auf den seinen. Er war warm, sie mußte ihn gerade erst aus dem Schuh gezogen haben. Sie sah ihn
an mit einem Leuchten in den Augen, das ihm sagte, daß sie ganz genau wußte, wie ihn ihre Dreistigkeit erregte. Der Fuß blieb.
Dies war nun keine Berührung mehr, die man als zufällig abtun konnte. Die junge Dame machte ihm ein Angebot. Ihm wurde warm.
Hoffentlich errötete er nicht. Auf keinen Fall durfte er die Sache weiter hinnehmen. Ein Aufsehen, eine Anklage des Vormunds
der Mädchen konnte Nachforschungen in Gang setzen.
Je länger sie ihn anschaute, die Kerzenflamme in ihrem Blick wie Sternenfunkeln, und je länger ihr warmer Fuß auf dem weichen
Leder seines Schnabelschuhs ruhte, desto heftiger hämmerte sein Herz gegen die Brust. Zieh den Fuß weg! sagte er sich. Aber
er ließ ihn ihr. »Ich bin kein Gewandschneider«, sagte er, »ich kann nur einige Kleidungsstücke verschenken. Manche Farbe
steht mir doch nicht so recht zu Gesicht, und so gibt es einige Hemden und Jaquettes, die ich nie trage.«
Die Cousinen lachten. Die Wirtin brachte einen Weinkrug und drei verzierte Bleibecher. Der Reihe nach goß sie ihnen ein. Auch
Nemos Becher füllte sie auf. Die Cousinen tranken. Er nippte einen kleinen Schluck, um den Schein zu wahren. Wenn diese Frauen
auf seine Verwandlung hereinfielen, würde die Täuschung dann auch bei Amiel gelingen? Alles hing davon ab.
Hinter ihm klappte die Tür der Gaststube. Er versuchte, in den Gesichtern der Frauen zu lesen. Einem hohen Adligen stand es
nicht an, sich nach der Tür umzudrehen. Die Münder der Cousinen schlossen sich, und sie versteiften die Rücken. Verwirrung
stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Es war soweit.
|272| Vier Männer traten vor den Tisch und verneigten sich. Sie trugen schwarze Kutten, auf die mit weißer, schimmernder Seide eine
Taube genäht war. Eine Taube wie im Wappen des Spitalordens vom Heiligen Geist. »Herr, Amiel von Ax lädt Euch höflich ein,
ihm die Ehre eines Besuchs abzustatten.«
Vizenz Paulstorffer war nicht abergläubisch. Dennoch gab es zur Zeit der Zwölf Nächte immer eine leichte Anspannung in ihm,
die er nicht zu lösen vermochte. Sie war ihm in frühester Kindheit beigebracht worden. »Kerstmis«, hatte seine Tante Brunhilde
zu Weihnachten gesagt und von den Seelenjägern gesprochen, die zur Zeit der Rauhnächte nach dem 25. Dezember umgingen.
Lange vor der Priesterweihe hatte er aufgehört, daran zu glauben. Und doch rechnete er damit, wie mit einem Verwandten, der
gestorben war, dessen Besuch man aber doch jedes Jahr wieder erwartete, und sich daran erinnern mußte, daß er nicht kam, daß
er überhaupt nicht kommen konnte. Als Vizenz mitten in der Nacht von einem Pferdewiehern geweckt wurde, waren alle Geschichten
Tante Brunhildes wieder da. Augenblicklich dachte er an die Seelenjäger. Er setzte sich im Bett auf. Welches Datum schrieben
sie? Gestern war der zweite Januar gewesen. Die neunte Rauhnacht.
Vom Fenster her klang es, als risse das Pergament mitten entzwei. Ein kalter Hauch wehte herüber. Er lauschte ins Dunkel.
Eine Diele knarrte. Er krallte die Hände in die Bettdecke, hielt den Atem an.
Es
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