Das Mysterium: Roman
ehrerbietig, aber er spürte, die vier Männer in den Kutten würden ihn zu
Amiel bringen, sei es im guten oder mit Gewalt. Es blieb nur, die Sache durchzuführen, wie er sie geplant hatte.
Warum bogen sie nicht in die Leimgasse ab? Ging es nicht zu Amiels Stockwerk über der Goldschmiedewerkstatt? Wohin brachten
sie ihn? Er spürte seine Schläfen pochen. Diese Wendung gefiel ihm nicht.
Vor einem prunkvollen Ritterhaus blieben sie stehen und klopften an, eine rhythmische Folge von Schlägen. Was war das für
ein Haus? Die weißgetünchten Steinmauern glommen geisterhaft im Nachtlicht. Über dem Tor ein Wappen … Nemo schluckte. Er kannte
das Wappen. Roter Grund, silberner Balken, ein Pfeil, der von der Sehne schnellt. Dies war das Haus des vornehmen Geschlechts
der Pötschner. Der Vater der Familie gehörte dem inneren Rat an, er war einer der
Zwölfer
wie Venk von Pienzenau und Hauptmann Ermenrich. Dieser Ratsgeschworene durfte wie die Ritter des Kaisers ein Schwert tragen,
er überwachte den Stadtbau, zog im Kriegsfall an der Spitze der Bürger ins Feld. Wieviel Macht hatte Amiel schon an sich gezogen?
Eine kleine Klappe öffnete sich in der Tür. Jemand fragte: »Wer da?«
»Bartholomäus, Andreas, Johannes und Philippus, mit einem Gast.«
|278| »Tretet ein.« Die Tür schwang auf. Der alte Pötschner höchstselbst ließ sie ein. Er war ebenfalls in eine Kutte gekleidet.
Durch einen Empfangsraum führte er Nemo und die anderen zu einem Flur, und in diesem Flur zu einer Tür, die über und über
mit Schnitzwerk bedeckt war. Er öffnete sie. Nemo blickte in eine hell erleuchtete Halle. Den Boden zierten weiße Kalksteinplatten.
Ein bronzener Kronleuchter hing von der Decke herab, sechzehn teure Wachskerzen brannten darin. In Wandnischen rings um den
Raum flackerten Dutzende weiterer Kerzen. Es war warm. Ein mächtiger Ofen mit silbergrauen Kacheln stand an der Stirnseite
des Saals, ohne Ofentür, offenbar beheizte man ihn aus dem Nachbarraum, kein Aschestäubchen beschmutzte diesen Saal. Hohe
Fenster blickten wie schwarze, gläserne Augen von der Wand. Darunter waren steinerne Bänke eingelassen.
In der Mitte des Saals stand ein runder Tisch, dessen Beine in Löwenpranken von poliertem Holz endeten. Zwölf Stühle umgaben
den Tisch, nicht Bänke, wie sonst üblich, auch nicht dreibeinige Hocker, sondern Stühle, ein jeder auf eigene Art gestaltet,
mit hoher Lehne und Armstützen und erhöhter Sitzfläche, die eine Fußbank erforderte. Solche Stühle waren Ehrenbezeugungen
für jeden, der in ihnen sitzen durfte. Einer der Stühle war besonders prunkvoll gestaltet und etwas größer als die anderen.
In diesem Stuhl saß Amiel, gekleidet in seinen blauen Kapuzenmantel. Der Bart war kohlenschwarz. Die grünen Augen faßten Nemo
und hielten ihn fest, während jeder seiner Begleiter auf einen der Stühle zutrat. Venk von Pienzenau saß bereits in einem
der Stühle, ebenso der Glatzkopf von den Fleischbänken und ein Gastwirt, den er kannte. Neun Stühle waren besetzt. Jeder der
Männer hier trug eine seidene Taube auf der Kutte.
Drei Kuttenträger fehlten. Die drei, die den Inquisitor verschleppten. Wie hatte der Perfectus es geschafft, diesen Kreis
aufzubauen, ohne daß er, Nemo, etwas davon merkte? Er war ein Beweis dafür, wie sehr ihm Amiel mißtraut hatte.
Der Perfectus sagte: »Danke für Euer Kommen. Ich bin |279| Amiel von Ax. Ihr seid aus Frankreich, wie ich hörte? Mit welchem Anliegen besucht Ihr München?«
In diesem Augenblick entstand ein neuer Plan in Nemos Kopf, rasend wie eine Feuersbrunst. Wenn er glückte, würden der falsche
Vollbart, die hochmütige Haltung und die verstellte Stimme eine Läuterung erfahren, die seine Wandlung beinahe unantastbar
machte. Alles stand und fiel mit einer Frage: Sah sich Amiel als einen der Zwölf? Offenbar gaben sich die Männer dieser Runde
die Namen der Jünger des Herrn Jesus Christus, sie nannten sich Johannes und Philippus und Bartholomäus. Wie nannte sich Amiel?
War er Simon Petrus? Oder nahm er als Perfectus das Amt des Erlösers wahr? Zwölf oder Dreizehn. Das entschied alles. Nemo
machte einen festen Schritt auf den Tisch und die Männer zu und sagte: »Wo ist mein Stuhl?«
Amiel runzelte die Brauen. »Wie?«
»Ich möchte wissen, wo sich mein Stuhl befindet. Ihr habt Euch doch nicht erdreistet, ihn fortzulassen im Rat der zwölf Jünger?«
»Euren Stuhl? Ich verstehe nicht.«
»Offenbar wißt
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