Das Mysterium: Roman
ihr wollt, erzähle ich euch von den Löwen.«
Die Kinder stellten sich im Halbkreis vor ihr auf, und sogleich gab es eine Rangelei, wer vorn stehen durfte. Die Hinteren
packten die Vorderen und zogen sie zurück, diese stießen mit den Ellenbogen nach hinten, traten, verteilten Knüffe.
Adeline begann: »Die Löwen kommen aus einem fernen Land, in dem immer die Sonne scheint.«
Schlagartig waren die Kinder still. Sie standen da und sahen sie mit großen Augen an.
»Dort leben sie in Rudeln beisammen, wie bei uns die Wölfe.«
»Gibt es da keine Wölfe?« fragte eine Kleine.
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, die Löwen sind dort die Wölfe. Mit ihren mächtigen Pranken erschlagen sie jedes Tier, das
sie fressen wollen. Niemand wagt es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Auch kein Jäger. Sie sind die Könige der Tiere.«
»Und wo schlafen die Löwen?«
»In Höhlen, glaube ich. Die Löwen, die der Kaiser besitzt, können uns nichts tun, weil sie mit eisernen Stangen gefangengehalten
werden. Durch die Stangen hindurch bekommen sie jeden Tag frisches Fleisch. Wenn man den Arm in den Käfig stecken würde, würden
sie ihn binnen Augenblicken abbeißen.«
Die Kinder bogen ihre Finger zu Krallen, begannen, sich gegenseitig zu kratzen, und brüllten dabei wie wilde Tiere. Das Brüllen
der Löwen, dieses mächtige laute Gähnen, kannte jeder in der Stadt. Es war weit über den Hof hinaus zu hören.
Eine Hand zupfte an ihrem Arm. »Bitte, ich habe alles gemacht.«
Sie drehte sich um. Der Junge stand dort und hielt sich die Seiten. Er keuchte. Sein Gesicht war rot verfärbt.
|266| »Kommt er?« fragte sie.
»Nein. Als ich nach Nemo gefragt habe, hat einer mit einer Glatze gesagt: ›Der kommt nicht wieder.‹ Ich habe gefragt: ›Warum
nicht?‹ Da hat er gesagt: ›Der ist verschwunden und kommt nicht wieder.‹ Da bin ich wieder hergerannt.«
Entsetzt starrte sie den Kleinen an. Amiel hatte Nemo etwas angetan.
Sie sah das Schlachthaus vor sich, Amiel mit dem Beil in der Hand. Ohne zu zögern, hatte er es in den Hals seines Sohnes gehauen.
Und nun hatte er wieder gemordet. Er hatte Nemo auf dem Gewissen, den unaufdringlichen, ruhigen, guten Mann. Er hatte ihm
Gewalt angetan, er hatte ihn erschlagen! Etwas Ungekanntes glühte in ihr auf, weiß und brennend. Es fraß an ihr. Sie haßte
Amiel.
Ich töte dich, dachte sie. Dafür töte ich dich.
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|267| 20
Die Wirtin rang die Hände. »Butter ist im Winter so, das könnt Ihr mir glauben, hoher Herr!«
»Ich esse nicht zum erstenmal Butter.« Er wies auf das Fäßchen. »Diese Butter ist aschfahl, sie ist fade! Ich möchte anständige
Butter haben.«
»Hoher Herr, Winterbutter ist immer heller gefärbt.« Sie sah ihn flehend an. »Man bekommt in der ganzen Stadt keine dunklere.«
»Das ist unerhört!« Er schlug mit der flachen Hand auf das Tischtuch. Die Kerzenflamme zuckte. Die anderen Gäste hoben die
Köpfe. Er sagte laut: »In Frankreich gibt es das nicht. Ihr verkauft hier minderwertige Ware!«
»Im ›Goldenen Hirschen‹ wird nur das Beste aufgetischt«, flüsterte sie, »das Beste, was zu bekommen ist! Bitte, dämpft Eure
Stimme. Seit Jahrzehnten sind die Gäste zufrieden mit uns.«
Er sagte: »Gebt mir anständige Butter. Das ist doch wohl das mindeste, was man bei einem Haus wie diesem verlangen kann.«
»Die Kühe fressen Heu und kein frisches Gras mehr wie im Sommer, sie fressen keine frischen Kräuter. Das nimmt der Butter
die Farbe. Es ist nicht unsere Schuld.«
»Ach so? Am Futter liegt es? Bekommt mein treuer Wallach draußen in Eurem Stall etwa auch dieses bleichmachende Heu, diese
Krankmachermahd? Wenn das Pferd Schaden nimmt durch Euer Futter, ich sage Euch, dann hat das Folgen! Billige Butter, billiges
Tierfutter … Ich bin enttäuscht, ja, sehr enttäuscht bin ich.«
Die Wirtin war den Tränen nahe. »Bitte! Ich tue doch alles, selbst hohe Herrschaften waren immer zufrieden mit mir.«
|268| Sie tat ihm leid. Womöglich genügte es. Seit dem Nachmittag hatte er seine Botschaft gestreut, am Stadttor, beim Kaufmann,
von dem er den Beutel erworben hatte, beim Pferdehändler. Die Spitzel Amiels würden den Perfectus über den Fremden aus Frankreich
in Kenntnis setzen. »Lassen wir es darauf beruhen«, sagte er. »Ich will hoffen, daß in den nächsten Tagen eine Verbesserung
eintritt.«
»Wir geben unser Äußerstes, die Köche und ich, verlaßt Euch darauf, Herr.«
»Dann bringt mir jetzt
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