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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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über ihm, er hing als Ausbuchtung über der Gasse zwischen diesem und dem Nachbarhaus, das der Familie Mäusel gehörte. Aber
     womöglich war Amiel längst auf dem Rückweg.
    Die Truhe war dieselbe wie im Haus des Goldschmieds, sie besaß einen hoch gewölbten Deckel. Er klappte sie auf. Der Hammer
     war nicht zu sehen. Nemo grub die Hand zwischen |305| die Kleidungsstücke. In jedem Winkel versuchte er es, dann noch einmal in der Mitte. Endlich fühlte er den Hammerkopf. Er
     zog das Werkzeug heraus, löste den Griff ab. Das Pergament war da, wie erhofft. Er steckte es sich ins Hemd, setzte den Hammerkopf
     wieder an und schob das Werkzeug tief zwischen die Kleider. Rasch schloß er den Truhendeckel. Nichts wie raus hier!
    Erst im Flur bemerkte er, daß ihn Atemnot peinigte und sein Herz pumpte, als sei er von Unseres Herrn Tor bis zum Isartor
     gerannt. Er sagte sich: Es ist nicht mehr schlimm, wenn sie mich jetzt erwischen. Das Herz hörte nicht darauf. Es schlug im
     Galopp gegen die Brust. Er mußte sich beruhigen! Für eine gelungene Täuschung mußte er sich im Griff haben. Er hatte das Pergament.
     Nun hieß es, das Haus zu verlassen, ohne dabei erwischt zu werden, Pferde zu besorgen, Adeline zu fragen, ob sie noch mit
     ihm gehen wollte, und dann aus der Stadt zu fliehen. All das vor dem Morgengrauen, möglichst bevor man bemerkte, daß er fehlte.
    Ein Lichtschimmer von der Treppe. Stufenknarren. Amiel kehrte zurück! Er mußte verschwinden, sofort! Die Küche, er stand neben
     der Küche, und die Tür war nur angelehnt. Nemo sprang hinein. Er streckte in der Dunkelheit die Hand aus und lehnte die Tür
     wieder an. Blieb zu hoffen, daß Amiel noch nicht um die Treppenkehre gekommen war und so die Bewegung der Tür nicht gesehen
     hatte.
    Es war warm in der Küche. Und es roch nach feuchter Asche, gerade so, als hätte jemand erst vor Augenblicken das Herdfeuer
     gelöscht. Außerdem lag die feine, angenehme Würze von Fleischbrühe in der Luft. Wie war das möglich? Das Licht kam näher.
     Nemo preßte sich neben der Tür gegen die Wand. Da öffnete sie sich plötzlich. Amiel betrat die Küche. Er ging an Nemo vorüber
     und stellte ein brennendes Talglicht auf den Tisch. Dann hob er am Herd den Deckel vom Topf. Es dampfte daraus.
    Nemo ließ sich hinab. Er kauerte sich hinter die Mehlkiste. Es war eng, sein Rücken tat weh. Hände und Knie setzten auf |306| eine dicke Staubschicht auf, er fühlte tote Fliegen und Käfer und etwas Klebriges. Vorsichtig spähte er am Rand der Kiste
     aus.
    Amiel spießte mit einer zweiflügeligen Gabel ein Stück Fleisch aus dem Topf und legte es in eine Schüssel. Er trug Schuhe
     und ein Nachthemd. Das angegraute Haupthaar stand ungewohnt vom Kopf ab, ganz so, als habe er sich lange im Bett hin und her
     gewälzt. Er schnitt mit einem Messer etwas vom Fleisch ab, steckte es auf die Messerspitze und hielt es sich vor den Mund,
     um zu pusten. Wie weit wollte er die Selbstbeherrschungsprobe diesmal treiben?
    Seine Hände zitterten, Nemo konnte sehen, wie er das Fleisch nur mit Mühe hielt. Er steckte den Batzen in den Mund und kaute.
     Er schluckte ihn hinunter. Dann saß er da und starrte vor sich hin. Er schnitt ein weiteres Stück ab. Er blies darauf, steckte
     es sich in den Mund, kaute. Immer schneller ging es. In einer Art Heißhunger aß er und aß. Dann begann er zu würgen, spie
     zerkautes Fleisch auf den Tisch, schob Messer und Schüssel von sich. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Gott, ich
     versage«, flüsterte er. »Ich kann nicht perfekt sein! Es ist mir unmöglich!« Er atmete in Stößen.
    Wie schutzlos der Perfectus war. Er war verletzlich und schwach. Nemo verlangte es plötzlich danach, diesem armen Mann zu
     helfen. Amiel hatte sich eine Aufgabe gestellt, die er nicht bewältigen konnte, und zerbrach daran. Er mußte ja scheitern,
     immer wieder scheiterte er, und wenn es in Gedanken war, welcher Mensch hatte schon vollkommen reine Gedanken?
    »Gott, du grausamer«, schluchzte Amiel, »ich flehe dich an, hilf mir, von Adeline loszukommen! Die Aufgabe ist zu schwer.
     Ich schaffe das nicht!«
    Adeline? Was sagte er da? Nemo schoß Hitze in den Kopf. Deshalb also der Rat, ihr nicht zu trauen? Er wollte sie für sich
     haben! Sie mußten die Stadt verlassen, noch in dieser Nacht. Hatte Adeline es nicht gesagt? Amiel von Ax wurde ihr gefährlich.
    |307| Der Perfectus nahm den zerkauten Fleischklumpen und warf ihn in die Asche. Genauso das

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