Das Mysterium: Roman
gelegt. Die Bevölkerung atmete auf. Viele, die öffentlich aufgeatmet hatten, besprachen anschließend im
geheimen, wie das Turmverlies zu stürmen sei, um den Heiligen zu befreien.
Nemo platzte in die kaiserliche Schreibstube hinein. »Sie haben ihn!« rief er. »Helft mir, zu ihm vorzudringen! Er muß uns
sagen, wo Adeline ist, bevor sie ihn hinrichten.«
Leonhard hob die tintenbefleckten Hände. »Beruhigt Euch, bitte!« Er wendete sich an William. »Schafft diesen Wilden hinaus,
bevor er mir in seiner Aufregung grüne Tinte über die guten Seiten schüttet.«
William nickte trübe. Er war seit Wochen apathisch und müde. »Gehen wir«, sagte er.
»Freut Ihr Euch nicht?« Nemo hielt ihn draußen an der Mönchskutte fest. »Sie haben Amiel!«
»Das Gerücht ist falsch«, sagte der Engländer und streifte Nemos Hand ab. »Sie haben einen seiner Jünger. Er hat versucht,
Unrast zu schüren bei den Lederern. Ein Mann, der behauptet, aus Frankfurt zu sein.«
»Es ist nicht der Perfectus?« Nemos Freude sackte in sich zusammen.
»Nein. Und der Mann weiß auch nicht, wo sich der Perfectus befindet. Sie haben ihm letzte Nacht die Beine gebrochen, die Daumen
zerquetscht und die Augen ausgebrannt. Er weiß nichts.« William sah ihn mitleidig an. »Wir haben Adeline verloren, Nemo. Die
einzige Hoffnung, die ich noch hege, ist, daß der Perfectus zurück in die Stadt kommt für die Hinrichtung seines Jüngers.
Verkleidet, irgendwie versteckt. Wir sollten hingehen und die Augen offenhalten.«
|405| Die Gnadenzeit endete, und der Zorn des Inquisitors brach wie eine Feuersbrunst über München herein. Im Morgengrauen hallten
Schreie durch die Gassen. Ritter und Stadtbüttel schleppten Männer und Frauen aus den Häusern, solche, die so unvorsichtig
gewesen waren, trotz Vorwarnungen in der Stadt zu bleiben, solche, die gehofft hatten, in der Masse nicht aufzufallen, von
niemandem verraten zu werden. Die geheime Namensliste fand sie alle. Wer geweihtes Brot vom Perfectus angenommen hatte, wer
dabei beobachtet worden war, wie er sich in der Nacht zu den Versammlungen schlich, wurde in den Gefängnisturm gebracht. Mitunter
wurden Freunde oder Verwandte durch die Schreie der Verschleppten aufmerksam, und es gelang, sie den Kriegsknechten zu entreißen.
Aber nicht selten mißglückte das, die Helfer wurden dabei gepackt, Blut floß. Die Häuser von verurteilten Häretikern wurden
ausgeräuchert. Die Wirtsstube »Zum Löwen« wurde in ein zusätzliches Gefängnis verwandelt, nachdem der Gastwirt im Turm gelandet
war.
Die Straßen waren nun leer, auch tagsüber. Viele verschlossen ihre Haustür und hielten auf dem Hinterhof Leitern bereit zur
Flucht über die Mauern und die Dächer. Aber die Büttel waren klug. Sie postierten Wachen hinter dem Haus, dessen Bewohner
sie gefangenzusetzen hatten, und wenn sie die Vordertür aufbrachen, liefen die Flüchtenden diesen Wachen geradewegs in die
Arme.
Noch war niemand hingerichtet. Am vierten Tag fanden die Münchner den ersten Scheiterhaufen, hoch aufgetürmt inmitten des
Marktplatzes. Voller Grauen kamen sie aus ihren Häusern, um zu sehen, wer den Tod finden würde. War es die Nachbarin, die
man gefangengesetzt hatte? Waren es der Onkel, die Tante? Niemand wußte Genaues. Als das Volk den Platz gefüllt hatte, ritt
der Inquisitor heran, gekleidet in das weiße Dominikanerhabit, umgeben von seinen Rittern. Hinter ihm brachte man einen Mann
auf einem Karren herbei. Er war fürchterlich zugerichtet: Statt der Augen gähnten schwarze Löcher in seinem Gesicht. Die Haare
waren ihm abgeschoren, |406| und verkrustete Wunden bedeckten die Arme. Was das Büßerhemd an Mißhandlungen verbarg, ließ sich nur erahnen. Als die Büttel
ihn vom Karren hoben, schleiften seine Beine ungelenk hinterher, und er brüllte vor Schmerzen. Ungnädig zerrten sie ihn eine
breite Leiter hinauf zum Scheiterhaufen, setzten ihn an den Pfahl und banden die Hände daran fest. Seine Schreie verstummten.
Er hob den Kopf. Es war, als könne er mit seinen schwarzen Augenhöhlen sehen und blicke durchdringend in die Menschenmenge.
Der Inquisitor saß ab. Er breitete die Hände aus. »Volk von München«, sagte er, »hört mein Urteil! Der Tod ereilt diesen Mann
aus Frankfurt, da er dem Pseudo-Propheten, dem Verführer des Christenvolkes und hartnäckigen und unverbesserlichen Ketzer
Amiel von Ax gedient hat, obwohl er wußte, daß er sich damit die Verdammnis
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