Das Mysterium: Roman
herausgeschnitten, und die Augen werden ihm entfernt.«
»Ihr werdet Euch für Venk von Pienzenau eine mildere Strafe ausdenken, nicht wahr?«
»Wir mußten das Neuhauser Tor aufgeben, Majestät.« Die langen, lockigen Haare des Bewaffneten waren verschwitzt und filzig.
Er trug rote Sprenkel im Gesicht, und eine Hand war mit Leinen verbunden. Blut drang hindurch. »Wir hatten keine Wahl. Ich
habe die Männer auf das Sendlinger Tor und das Angertor verteilt, um wenigstens die zu halten.«
Ludwig streichelte den Affen, der sich am Fensterrahmen festhielt und ängstlich hinausstarrte. Der Mond stand kupferrot am
Himmel, als sei ein Fluch über die Stadt gesprochen worden. Der Rittersaal war kalt, vier Schritt war die Gewölbedecke hoch,
es war nahezu unmöglich, ihn zu beheizen. Aber es ging um das Reich. Er konnte in einer solchen Nacht nicht vom warmen Schlafgemach
aus regieren. »Ulrich«, sagte er.
»Ja, Majestät?« Magister Ulrich stand vom leeren Tisch auf und kam herbei.
»Ich will vierhundert Ritter und schwere Reiter haben, und tausendfünfhundert Leute zu Fuß samt Bogenschützen. Setzt Schreiben
an meine Lehnsleute auf.«
»Wie Ihr befehlt, Majestät.«
»Die Boten sollen das Neuhauser Tor meiden.«
Heinrich von Thalheim polterte: »Eure eigene Residenzstadt angreifen? Das ist der schiere Wahnsinn! Das ist, als würdet Ihr
Euch selbst die Pulsadern aufschneiden!«
Ein Diener trat heran, verbeugte sich.
»Sprich«, sagte Ludwig.
|426| »Neunzehn Armbrustschützen sind zu Eurem Schutz eingetroffen.«
»Neunzehn von fünfundvierzig? Jahrelang haben wir ihnen Sold gezahlt!«
»William Ockham ist ebenfalls da. Er hat den Inquisitor bei sich. Der Inquisitor läßt fragen, ob Ihr bereit seid, ihn unter
Euren Schutz zu nehmen.«
Der Kaiser lachte bitter auf. »Hat er vergessen, daß über mich der Kirchenbann verhängt wurde? Es ist die Nacht der Nächte!«
Er nickte. »Soll bleiben. Richtet ihm das Gästegemach her, das der englische Gesandte kürzlich bewohnt hat. Und William Ockham
soll kommen, ich brauche seinen Rat.«
War der Dominikaner überhaupt einsichtig? William betrachtete ihn, wie er da stand und den Kaiserhof besah, die Löwen, die
ruhelos in ihren Käfigen auf und ab liefen, das große Wappen an der Häuserwand. Er wirkte nicht gerade schuldbewußt. Er sah
vielmehr wie ein Krieger aus, der nie daran zweifelte, daß er in der Schlacht auf der richtigen Seite stand. Unvorstellbar,
daß dieser Mann sich in der Nacht auf dem Bettlager hin und her wälzte und sich selbst Vorwürfe machte. »Euch ist bewußt«,
sagte William, »daß Ihr den Aufruhr mitverantwortet?«
Der Dominikaner ließ weiter seinen Blick schweifen. »Wie meint Ihr das?«
»Diese Menschen haben jahrelang treu zum Kaiser gestanden. Amiel von Ax kann sie nur deshalb zur Rebellion aufstacheln, weil
Ihr Angst geschürt habt. Diese Angst zerstört das Vertrauen.«
»Es ist eine gesunde Angst. Sie führt zur Erkenntnis von Fehlern.« Der Dominikaner sah ihn an. »Ihr macht mir Vorwürfe? Bevor
ich kam, hat sich niemand um diesen Erzketzer geschert. Ihr habt ihn stark werden lassen, und ich sollte anschließend für
Euch die heißen Kohlen aus dem Feuer holen. Habt Ihr ihn nicht reden gehört vor dem Augustinerkloster? Er hält sich für Gott!«
|427| »Diese ganze Lage, dieses Unglück, es ist nicht erst mit Amiel von Ax entstanden. Die Kirche stellt das Reich seit Jahren
auf die Zerreißprobe. Erst ließ der Papst sieben Jahre lang zwei Königskandidaten gegeneinander zu Felde ziehen, ohne verlauten
zu lassen, wen er favorisiert, und ohne schlichtend einzugreifen. Dann, als Ludwig den Wettstreit gewann und König wurde,
was tat Papst Johannes? Er ließ verkünden, daß Ludwig nie rechtmäßig König gewesen sei, denn er, der Papst, habe die Wahl
nicht bestätigt. Bald darauf unterwarf er ihn dem Kirchenbann. Ist Euch bewußt, daß das seit dreizehn Jahren der Zustand ist,
in dem sich dieses Land befindet? Wir haben gehofft, als Papst Johannes starb, daß endlich Versöhnung mit der Kirche möglich
werden würde. Aber Papst Benedikt ist an keiner Klärung interessiert.«
»Ich verstehe. Für Euch sind der Papst und die Kirche für alles Böse zuständig, das im Kaiserreich geschieht.«
»Die Kirche ist vom Wege abgeirrt.« Er faßte sich an die Stirn. »Es will mir nicht in den Sinn, wißt Ihr? Da gibt es Schulen
in jedem Kloster, mehrere tausend Schulen, in denen
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