Das Mysterium: Roman
dem Stoff zu streichen. Dann trat
sie neben die Bäuerin. »Ich danke Euch. Ihr habt ein gutes Herz.«
»Ihr, Euch, das kannst du dir hier sparen. Da drüben steht ein Krug Milch und ein Becher. Trink etwas. Brot habe ich euch
eingepackt und ein wenig Käse.«
Nun erhob sich auch Nemo. Er folgte Adeline zum Tisch. Sie goß Milch ein. Weiß schäumte sie in den Becher. Adeline bot ihm
den Becher an. Er schüttelte den Kopf. »Du zuerst.«
Sie trank. Ein Milchrand blieb an ihrer Oberlippe haften. Sie reichte ihm den Becher, und er trank ebenfalls. Die Milch war
warm und fett. Sie sättigte. Er wischte sich über den Mund. Nun lächelte sie und wischte sich ebenfalls über den Mund.
»Wie können wir Euch … wie können wir dir danken?« fragte er, zur Bäuerin hingewandt.
»Christus wird’s mir danken, am Jüngsten Tag. Eine gute Weiterreise euch Turteltauben!«
»Der Herr segne Euch«, sagte Adeline. »Ich meine, er segne dich.«
Nun mußte auch die Bäuerin lächeln. »Schon gut. Er hat’s verstanden.«
Sie nahmen den Proviantbeutel, öffneten die Tür des Bauernhauses. Sie kreischte in den Angeln. Draußen war das Tschilpen |433| der Spatzen noch lauter. Ein ganzer Schwarm von ihnen saß im Gebüsch am Wegrand. Hühner pickten rings um die Schimmelstute
im Schneematsch. Sie schienen sich vor dem Pferd nicht zu fürchten. Über den Winterwiesen stand Nebel. Die Sonne leuchtete
golden hinein.
»Bereust du es?« fragte er. »Ich meine, mit mir.«
»Nur wenn du so weitermachst und ständig an dir zweifelst. Sei du selbst!«
Das war leicht gesagt. Je mehr er sich anstrengte, er selbst zu sein, desto verkrampfter und unsicherer wurde er. Er wußte
kaum, wer Nemo war. Wie sollte er dann wissen, wie sich Gebuin verhalten sollte?
Er konnte sich einen Menschen ausdenken, und dann dessen Verhalten darstellen. Das war keine Schwierigkeit für ihn. Wie könnte
Gebuin sein? Adeline wünschte sich einen selbstsicheren Mann, einen, der seine Stärken genau kannte und damit zufrieden war.
Nun, den konnte sie haben. Er drückte ihr das Proviantbündel in die Hand, legte der Schimmelstute den Sattel über, gurtete
ihn fest und stieg auf. »Du auch?« fragte er. Es klang herrlich selbstsicher. Sie würde ihn mögen.
Adeline sah grinsend zu ihm auf und schüttelte den Kopf. »Bitte, streng dich nicht gar so arg an.«
Die Kerze erlosch. Ein feiner Rauchfaden stieg auf von ihrem Docht. William sah zum Fenster. Er mußte keine neue Kerze anzünden,
es war bereits Morgen. Sein Mund war entsetzlich trocken. Die Zunge rieb rauh am Gaumen. Sei es! Er mußte diese Denkaufgabe
lösen, Wohl und Wehe der Stadt, des Kaisers und des Heiligen Römischen Reichs hingen daran.
Er legte das Astronomiebuch beiseite und schlug erneut die Tafeln von Toledo auf. Abaelard hatte die Aufzeichnungen des Arabers
al-Khwarizmi vortrefflich ins Lateinische übersetzt, und doch verstand William die Rechenwege nicht. Er brauchte die Finsternistafeln,
dazu die Elongationstafeln, die den Abstand zwischen Sonne und Mond ergaben. Dieser wurde in Winkeln angegeben, indem man
von der Erde aus |434| Linien zu Mond und Sonne zog. Null Grad hieß, der Mond stand genau vor der Sonne. Das war bei Neumond so. Hundertachtzig Grad
bedeuteten, daß die Sonne vor der Erde stand und hinter der Erde der Mond, oder umgekehrt. Man sah einen Vollmond.
Die Bahnen von Sonne und Mond liefen aber nicht auf einer Ebene. William rieb sich die Schläfen. Er war müde. Wie zäher Teig
waren seine Gedanken, er formte sie mit Mühe. Die Mondbahn war gegenüber der Sonnenbahn um fünf Grad geneigt. Um nun herauszufinden,
ob eine Mondfinsternis anstand, mußte man die Mondknotenlinie einbeziehen, mußte an den aufsteigenden oder den absteigenden
Mond denken.
Er fuhr mit dem Finger die Tabellen entlang, ritzte einige Zahlen in ein Wachstäfelchen. Welche Berechnung hatte er auf diesem
Pergamentfetzen festgehalten? Er kam allmählich durcheinander. Das fortlaufende Nachschlagen in den Listen, das Umherschieben
von Zahlen, die mathematischen Formeln! Die Tafeln waren für den Breitengrad von Toledo aufgestellt. Er aber befand sich in
München. Wie rechnete man das um?
Eine Finsternis, die von der Erde herrührte, war überall zu sehen, wo auch der Mond zu sehen war. Der Schatten der Erde, die
sich zwischen Sonne und Mond schob, war riesig. Wenn allerdings der Mond den Schatten warf, mußte man genau den Ort berechnen,
auf den er
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