Das Mysterium: Roman
traf, denn er war klein, man sah ihn womöglich in Rom, in Oxford aber nicht.
Er nahm das gebogene kleine Messer und spitzte die Gänsefeder an. Kielstäubchen landeten auf dem Buch. Er blies sie fort.
Die Berechnung, die er anstellen mußte, war eine Herausforderung. Ob es schon andere vor ihm versucht hatten? Womöglich saß
er hier tagelang, und es gab am Ende kein brauchbares Ergebnis. Er kratzte sich den Kopf. An seine Grenzen zu stoßen, nicht
mehr nachvollziehen zu können, was man eigentlich rechnete – es war eine Qual. Aber es war die Aufgabe, die ihm Gott gestellt
hatte.
|435| Amiel legte die Hand auf das wettergeprüfte Holz der Ballista. Er folgte mit dem Finger der Einkerbung, in die der Bolzen
eingelegt wurde. Dann sah er zwischen den Mauerzinnen auf das freie Land hinaus. Er wollte mit diesem Kaiser zusammenarbeiten,
nicht gegen ihn kämpfen. Aber es war deutlich, daß Ludwig auf ein Heer wartete. Er lehnte jedes Angebot zu Verhandlungen ab.
Bald würden auf dieser Wiese deutsche Ritter ihren Schlachtruf »Rom!« brüllen, bevor sie gegen die Aufständischen anritten.
Die Ritter betrachteten sich als Nachfolger des von Caesar und Augustus gegründeten Imperiums der Römer. Was konnten seine
Rebellen dagegenhalten? Die Überzeugung, dem wahren Glauben zu folgen. Die Verzweiflung, mit der ein Mensch seine Heimatstadt
verteidigte.
Er sah den Mauerring entlang. Einhundert Türme, acht Tore. »Wer bedient die Ballista?« fragte er. Zum Glück hatte er Ermenrich
befreien können. Ohne den kriegserfahrenen Hauptmann waren sie verloren.
Ermenrich befühlte den Schwertknauf über dem silberbeschlagenen Gurt. Er warf einen strengen dunkeläugigen Blick auf die Ballista
und sagte: »Ich habe mit den Zimmerleuten geübt, sie müßten das Laden und Abfeuern beherrschen.«
»Was heißt geübt?«
»Die Waffe wurde noch nie eingesetzt. Die Stadt hat sie erst nach der Abwehrschlacht gegen das Heer Heinrichs von Niederbayern
angeschafft vor drei Jahren.«
»Werden die Zimmerleute nicht für die Wurfmaschinen gebraucht?« Er sah an der Mauer hinunter. Dort stand eine der gewaltigen
Maschinen, mit denen man Steinblöcke schleuderte. Ein Ochsenkarren fuhr gerade Steine heran.
Ermenrich hob die schwarzen Brauen. »Und für die Windhaspeln der Standarmbrüste. Drei schwere Bolzen gleichzeitig, das dürfen
wir uns nicht entgehen lassen. Ihr habt recht, wenn nach einem Pfeilregen die Hälfte von ihnen tot ist, sind wir unterbesetzt
an den Geschützen, mitten in der Schlacht. Ich mache mich gleich daran. In zwei Wochen habe ich vierzig |436| zusätzliche Männer für die Geschütze ausgebildet.« Der Hauptmann fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Ich lasse am besten
eine Ballista vor der Stadt aufstellen, dort, wo sonst die
Sagitarii
üben.«
»Zwei Wochen? Soviel Zeit bleibt uns nicht. Haben wir genügend Pfeile und Bolzen?«
»Dreizehntausendeinhundert Pfeile. Siebentausend Bolzen.«
Ein junger Bursche kam die Treppe hinauf. Er trat an Amiel heran und reichte ihm einen Brief. »Für Amiel von Ax«, sagte er.
Seine Stimme brach dabei.
Amiel faltete das Pergament auf. Eine Vorladung der Inquisition. Am 22. Februar bei Sonnenaufgang sollte er auf dem Marktplatz
erscheinen, um seine Verteidigung vorzutragen. Das Schreiben erwähnte Zeugenaussagen, die schriftlich gegen ihn vorlagen.
Was sollte das? Er regierte München, und der Inquisitor hatte sich auf dem Kaiserhof verkrochen.
In jedem Fall war das Dokument das bestgeschriebene, was er je erhalten hatte. Die Zeilen verliefen gerade, die Buchstaben
glichen einander auf das genaueste. Der Notar, der das Dokument beglaubigt hatte, hatte ein aufwendiges Signum daruntergesetzt
zum Beweis seiner Echtheit. In diesem Signum war die Anzahl der Zeilen verschlüsselt, und zwar so geschickt, daß niemand die
Zeilenzahl verändern oder entfernen konnte, ohne das Echtheitszeichen zu beschädigen. Wollte der Inquisitor ihn warnen? Ihn
einschüchtern?
Ihm stockte der Atem. Es mußte der Tag des Angriffs sein! So bald schon! Sie wollten ihn auf dem Marktplatz wissen und Tausende
Schaulustige, und in dieser Zeit würde das Heer heranrücken.
Für einen Augenblick dachte er daran, alles hinzuwerfen und seinen Kopf auf juristische Weise zu retten. Er konnte an den
Papst appellieren. Wenn dies vor der Verkündung des Endurteils geschah, war es rechtswirksam und hielt den Prozeß auf. Allerdings
war die Anfrage an den
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