Das Mysterium: Roman
Sie glauben bis heute daran. Und ich
kann es verstehen. Adelines Mutter ging es nicht gut, sie lag im Sterben in jenem Frühjahr. Deshalb sind wir nach München
zurückgekehrt. Du weißt doch, die zwei Türmer, die auf dem Petersturm Tag und Nacht Wache halten über die Stadt, immer pünktlich
die Stunde schlagen und im Falle, daß ein Feuer ausbricht, das Hüfthorn blasen? Drei Monate nach Amiels Verschwinden, auf
den Tag genau, blies das Hüfthorn. Aber es war kein Feuer und kein Feind, den es meldete. Es war eine Wolke, die den ganzen
Horizont bedeckte. Heuschrecken. Die Warnung, die er vor dem Kaiserhof ausgesprochen hatte, traf ein. Die Heuschrecken kamen
über uns, wie die Plagen Gottes über die Ägypter gekommen waren. Sie |460| fraßen alles. In diesem Frühjahr kostete ein Viertel Korn zwei Goldgulden. Viele sind verhungert, zuerst die, die schon in
guten Erntejahren am Rande des Hungertods lebten. Sie konnten die hohen Preise nicht bezahlen.«
»Warum hast du mich belogen? Warum hast du mir nicht gesagt, wer du bist?«
»Ich bin nicht als Nemo nach München zurückgekehrt, sondern als Kaufmann Neuhauser. Aus gutem Grund. Die Inquisition vergißt
nie.«
»Hat dir das Schweigen genützt? Nein. Sie haben dich doch entlarvt.«
»Allein durch Amiels Rückkehr. Sein Auftauchen hat mir die Maske vom Gesicht gerissen. Davor gab es nur zwei Menschen, die
von der Wahrheit wußten. Anders wäre es nicht gegangen. Ich hätte uns alle gefährdet.«
»Mutter wußte es. Wer noch?«
Er wies am Seeufer entlang.
Was meinte er? »Ich sehe niemanden.«
»Schau genauer hin. Dort, zwischen den Bäumen.«
Mathilde blickte angestrengt von Strauch zu Stamm. War das …? Da stand eine Hütte! Sie war kaum auszumachen inmitten des Gesträuchs.
»Wer lebt dort?«
Ohne ein Wort setzte sich Vater in Bewegung. Er ging auf die Hütte zu. Mörder verbargen sich im Wald, Ausgestoßene, Männer,
die das Tageslicht scheuten. Wer lebte hier?
Als sie sich der Hütte näherten, hörte sie das Summen von Bienen. Auf der dem See abgewandten Seite standen vier Bienenkörbe
neben dem schiefen Holzhäuschen. Von den Eingangslöchern dreier Körbe flogen immer wieder Bienen auf. Der vierte Korb war
verwaist. Sein Geflecht war zerlöchert.
Die Tür der Hütte öffnete sich. Ein Mann trat ins Freie. Er trug einen grauen Bauernkittel. Seine Nase war pockig, aber den
Mund umgab ein friedlicher, weicher Zug. Er sah Vater an. »Ist es soweit?«
Vater nickte. »Es ist soweit.«
Der Mann ging zurück in die Hütte. Er kehrte wieder mit |461| etwas Weißem in den Händen. Handschuhe waren es, Handschuhe aus glänzender Seide. Er zog sie an.
Vater schmunzelte. »Die habt Ihr Euch aufgehoben?«
»Für den heutigen Tag.« Der Eremit wandte sich dem verlassenen Bienenkorb zu.
»Wartet«, sagte Vater, »ich möchte, daß meine Tochter es versteht.« Er zeigte auf den Mann. »Darf ich dir Venk von Pienzenau
vorstellen? Er kannte zwanzig Jahre lang mein Geheimnis und hat es treu gehütet.«
Venk von Pienzenau deutete lächelnd eine Verbeugung an. »So wie Ihr das meine.«
Vater richtete den Arm auf den stillen Bienenkorb. »Hier ruht das Vermächtnis von William Ockham. In diesem Bienenhaus liegt
die Zukunft der Kirche der Liebe.«
»Ich verstehe nicht.« Mathilde starrte auf die Hütte, den Mann, die Bienen.
»Ich habe auf Amiels Zeichen gewartet«, sagte der Vater. »Ich konnte nicht glauben, daß Gott ihn umsonst mit einer solchen
Ausstrahlung beschenkt hat und mit solchem Talent, auf Menschen einzuwirken. Ich wußte, eines Tages würde uns ein Zeichen
von ihm erreichen. Wenn er nicht selbst zurückkehrte, dachte ich, dann würde einmal seine Bewegung nach München kommen, sein
Werk, das Werk Gottes.«
Ein Eichelhäher flog zeternd auf. Mathilde spähte in den Wald. »Vater, versteckt Euch!« Sie duckte sich hinter das Gebüsch.
Hatten sie so deutliche Spuren hinterlassen? Oder wußte jemand, wo sie waren?
Eine Stimme rief: »Mathilde? Nemo?«
Mathilde stand auf.
»Adeline«, sagte Vater und trat auf die Mutter zu. Sie fielen sich in die Arme. Mathilde sah genau hin. Mutter schloß die
Augen und preßte beide Hände auf seinen Rücken. Sie war froh, ihn zu sehen, und nicht mehr wütend. Die Liebe der Eltern schien
keinen Schaden genommen zu haben.
Vater löste sich aus der Umarmung. »Bist du dir sicher, daß dir niemand gefolgt ist?«
|462| »Du meinst, ein Spitzel der Inquisition? Mir ist
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