Das Mysterium: Roman
reinen Kirche.«
Nemo versteinerte.
»Seine Aufgabe war das Sammeln und Verwalten von Geldgeschenken. Er verbarg die Rücklagen und tauschte kleinere Münzen in
größeres Geld um. Die Diakone haben ihn überwacht. Unter ihrer Aufsicht sammelte er den Schatz der Kirche an.«
Er konnte nichts sagen, nicht einmal schlucken. Wenn der Vater in seiner Erinnerung Geld zählte, dann war es das Geld der
reinen Kirche gewesen? Die Eltern hatten dazugehört, sie waren Verschwörer wie Amiel?
»Du denkst vielleicht, daß die reine Kirche nichts besitzt. Aber das ist nicht so. Sie verlangt keinen Zehnten. Wenn ihr jemand
allerdings freiwillig etwas spendet, wird es für den Aufbau der Kirche aufbewahrt. In Frankreich wurde häufig auf dem Totenbett
ein Erbe zu ihren Gunsten ausgesprochen.«
Das
Depositum
. Es war das Geld der reinen Kirche. Hafteten ihm damit nicht Irrtum und Irrglaube und Ketzerei an? Es war Geld, das Menschen
von Gott fortlocken sollte, hin zu einem Götzen, der keine Fehler duldete, einem Götzen, der ohne Liebe bestrafte.
»Dein Vater gehört zu einem Zweig von Gläubigen, die der Auffassung sind, daß das
consolamentum
eines Perfectus seine Kraft und Gültigkeit verliert, sobald er eine große Sünde tut. Der Perfectus, der in seinem Heimatort
die geheime Kirche leitete, wurde mit einer Geliebten erwischt. Dein Vater fürchtete, nun nicht erlöst werden zu können. Es
gab damals großen Streit, überall in Okzitanien. Ich habe versucht, deinen Eltern |455| ihre Angst auszureden, aber ohne Erfolg. Eines Tages waren sie verschwunden. Es hieß, sie seien nach Kroatien gereist. In
Kroatien gibt es Perfecti, die als besonders streng gelten. Den Schatz der Kirche nahm dein Vater mit sich, vermutlich, um
ihn der kroatischen Kirche zu geben, die er für besser hielt als die okzitanische.«
»Das
Depositum
?« Nemos Stimme klang ihm selbst fremd.
»Er hat es hier versteckt, für den Fall, daß er und deine Mutter auf der Reise zu Schaden kommen. Damit der Meister des Ordens
vom Heiligen Geist, der zu uns gehörte, nicht in Versuchung geraten konnte, sich das Geld anzueignen, gab dein Vater ihm nur
das halbe Pergament. Die Inquisition fand es bei ihm, kurz vor der Hinrichtung.«
»Warum haben sie mich vor die Klostertür gelegt, wenn doch der Meister ein Freund meiner Eltern war?«
»Es mußte den anderen Chorherren so erscheinen, als seist du ein Findelkind.«
»Ich bin als ein Findelkind aufgewachsen.«
Amiel nickte. »Da siehst du es. Wohin führt diese Lehre? Kinder werden verlassen. Ehen auseinandergerissen. Wir hassen die
Welt und uns selbst. Ich möchte kein Perfectus mehr sein.«
»Warum haben meine Eltern mich verlassen? Ich meine, wie konnten sie ein kleines Kind in einer fremden Stadt aussetzen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht war ihnen die Reise zu beschwerlich mit einem Kleinkind. Oder sie hatten vor, dich später nachzuholen
mit dem Schatz. Sie sind nie zurückgekehrt.« Er holte tief Luft. »Ich möchte mich für das Böse entschuldigen, das ich getan
habe. Aber die meisten, denen ich Leid angetan habe, werde ich nie wiedersehen. Ich bitte dich, verzeihst wenigstens du mir?«
»Schließe die Augen.« Er sagte: »Guter Gott, ich verstehe meine Eltern nicht. Ich bin wütend auf sie. Ihren Namen will ich
nicht haben, ich will weiter Nemo heißen. Bitte hilf mir, sie eines Tages zu verstehen und ihnen zu verzeihen.«
|456| Es war still.
»Jetzt du«, sagte er. »Bring einfach vor, was du auf dem Herzen hast.«
Stille. Ein bebender Atemzug.
Nemo sah nach.
Amiels Augen waren geschlossen. Unter den Lidern flossen Tränen hervor und liefen über das Gesicht. Er sagte: »Ver gib mir, Gott!« Er preßte die Lippen aufeinander. Die Kiefermuskeln spannten sich an. Dann stieß er es erneut hervor: »Gott,
vergib mir!« Er schöpfte zitternd Atem. »Ich habe alles falsch gemacht. Ich bin unter deinen Kindern das mißratenste, aber
auch das unglücklichste. Haßt du mich? Bitte verzeih mir.« Er öffnete die Augen, wischte sich über das Gesicht. »Geh, Nemo,
Adeline wartet auf dich.«
»Nein, ich bin noch nicht soweit. Du bist ein so kluger Mann, Amiel. Das hast du noch nicht gewußt? Was wir hier tun, das
ist Vergebung. So wie Gott dir deine Schuld verzeiht, so verzeihe ich dir den kleinen Anteil, den ich tragen mußte.« Er zog
die Fesseln hervor und den Knebel. Die Eisenfeile legte er fort. Die würde er nicht brauchen. Er stand auf und zog sich
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