Das Mysterium: Roman
nicht erkannt! Ich sage Euch, er kann sein Gesicht verwandeln. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Kümmert
Euch lieber um Leute wie ihn!«
»Warum seid Ihr damit nicht zu mir gekommen?«
»Diesmal verliere ich keine Zeit. Ich weiß, daß er in der Stadt ist. Er muß es gewesen sein, zu dieser Art von Tücke ist |59| nur einer in der Lage. Nun kenne ich sein gegenwärtiges Gesicht. Ich schnappe ihn mir. Er wird büßen!«
Jedesmal nachdem sie ihrer Herrin, der verwitweten Gräfin Giselberga, beim Auskleiden geholfen hatte und zu Bett geschickt
worden war, betrat Adeline ihren kleinen Schlafraum im zweiten Stock des Ostflügels. Diesen Augenblick wollte Nemo abpassen.
Er mußte sich beeilen. Die Sterne funkelten bereits am Himmel. Er klopfte an die Tür des Jägerhauses, das vor den Mauern des
Kaiserhofs stand.
Ein Jagdgehilfe öffnete. »Du schon wieder!«
»Ich will zum Alten.« Die Münzen in seiner Hand waren heiß. Er hielt sie seit Stunden fest umklammert. Heute brauchte er eine
Stärkung, er konnte das Geld nicht sparen, er mußte Frieden suchen, indem er Adeline betrachtete.
»Ich habe ihm die Stiefel ausgezogen, er legt sich gerade schlafen.«
»Jetzt schon?«
»Wir hatten das große Fest am Hof. Der Alte ist voll wie ein gestopfter Ganter. Besoffen außerdem.«
Nemo zwängte sich am Jagdgehilfen vorbei und hastete die Treppe hinauf.
»He, hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« rief ihm der Junge hinterher.
Es war dunkel, er hätte ein Licht mitnehmen sollen. Immer langsamer wurde er. Mühsam ertasteten seine Füße die Stufen. Im
zweiten Stockwerk streckte er die Hände aus, bis er die Tür des Alten fühlte. Er klopfte. »Seid Ihr noch wach? Ich bin es,
Nemo.«
Ein Stöhnen im Innern, dann das Knarzen des Bettes. Schritte schlurften heran. Die Tür öffnete sich. Nemo konnte Fingerspitzen
spüren, die ihm gegen den Bauch drückten. »Das Geld.« Der Atem des Jägers roch säuerlich.
Nemo legte die Münzen in die ausgestreckte Hand.
»Jetzt kannst du gaffen, du geiler Bock.« Der Jäger schlurfte zurück zum Bett.
|60| Nemo trat ein und schloß die Tür. Mit raschen Schritten war er am Fenster, öffnete es. Er sah über die Straße hinweg ins Nachbarhaus.
Sie saß auf dem Bett und kämmte sich das Haar. Im Schein der Kerze, die auf der Kleidertruhe stand, schimmerte ihr Haar wie
Gold. Ruhig zog sie den Kamm hindurch, vom Scheitel bis zu den Haarspitzen. Sie hielt die Augen geschlossen dabei. Dieses
feine Gesicht! Sie war der unschuldigste Mensch des Kaiserreichs. Vermutlich konnte sie noch nicht einmal eine Mücke erschlagen.
Er liebte das an ihr, weil er selbst überhaupt nicht so war, weil sein Inneres längst zerfressen war von Boshaftigkeit und
Neid und Wut. Ob sie sich die Haare kämmte oder ein Kleidungsstück flickte oder verstohlen gähnte, ganz gleich, sie strahlte
kindlichen Frieden aus dabei.
Jetzt kauerte sie sich vor die Truhe, öffnete sie, verstaute den Kamm darin. Sie rückte die Schuhe vor dem Bett gerade, ging
dann zur Tür, um abzuschließen, und kehrte zum Bett zurück. Ihr zierlicher Körper faszinierte ihn. Sie war nicht groß, wenn
er vor ihr stand, mußte sie zu ihm aufblicken. Allein die Vorstellung beschleunigte seinen Atem. Wie konnte eine junge Frau
so zierlich sein und doch erwachsen und unerreichbar für ihn?
Nachdem sie die Bettdecke aufgeschlagen hatte, blies sie das Licht aus. Auch wenn er nun nichts mehr erkennen konnte, sah
er weiter hin. Er stellte sich vor, wie sie sich entkleidete. Wie sie ins Bett stieg und unter die Decke schlüpfte. Ihre Wange
würde sich an das Kissen schmiegen, und dabei entspannte sich ihr Gesicht. Was gäbe er darum, sie einmal so zu sehen, und
dann, wenn sie die Augen öffnete, von ihr angeschaut zu werden!
Es blieb dunkel. Er schämte sich. Hier zu sitzen und ins Zimmer eines Mädchens zu starren! Er bezahlte Geld dafür, das er
sich sonst vom Munde absparte für die wichtigste Reise seines Lebens. »Geiler Bock« hatte ihn der Jäger genannt. Wie tief
konnte er noch fallen? Er nahm sich vor, Adeline endlich zu lassen.
|61| Wäre nicht vieles einfacher gewesen, hätte er vor zweieinhalb Jahren der Stadt den Rücken gekehrt? Hier hatte er seine Verstecke,
ja, und er kannte die Mächtigen und wußte Gefahren auszuweichen und Schwächen auszunutzen. Aber die Wahrheit war auch, daß
er Adeline sehen wollte. Immer wieder sie ansehen, eine bittersüße Sucht war es.
Der
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