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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Wort von seinem Mund. War das der gleiche Amiel, der so
     geheimnisvoll und mächtig gewirkt hatte? Er schien plötzlich wie ausgewechselt zu sein: Er redete, und seine Augen blitzten
     fröhlich dabei. Weit holte er mit den Armen aus, gestikulierte, lachte.
    Bald traten weitere Frauen hinzu, die kleine, dickliche ließ ihre Käfige mit den Hühnern stehen, eine andere schleppte einfach
     ihr Feuerholz mit heran und setzte es bei der Runde seiner Zuhörerinnen auf den Boden.
    Wie zog er sie in seinen Bann? Waren es die grünen Augen? Waren es die grauen Strähnen im Haupthaar? Die Frauen himmelten
     ihn regelrecht an. Anfangs hatten noch sie erzählt, und er hatte ihnen freundlich nickend zugehört. Jetzt aber redete nur
     noch er.
    Was, wenn er gar kein Verschwörer war, sondern ein genialer Dieb? Dualist, hatte William Ockham gesagt, und etwas von Aristoteles
     und Platon. Es sah eher danach aus, als würde er jeden Augenblick der linken Krämerin den Geldbeutel abschneiden und ihn in
     seinem Ärmel verschwinden lassen. Nemo richtete sich auf, um besser zu sehen. Er achtete genau auf Amiels Hände.
    »Natürlich, es gibt Freuden auf Erden. Ihr kocht eine schmackhafte Mahlzeit. Euer Kind lernt ein neues Wort. Oder ihr erfreut
     euch am Anblick eines gutaussehenden Mannes.«
    |91| Die Frauen lachten.
    »Aber schaut dahinter! All dies ist nichts als bröckelnder Putz. Die Mahlzeit kann euch zur Sünde verführen, wenn sie euer
     Denken beherrscht. Das Kind, wehe, wie ist es zu bedauern! Wäre es doch nie in die Wirren und Nöte dieser Welt geboren worden!
     Die Schönheit des Mannes weckt böse Lüste in euch. Denkt daran, sage ich, eines Tages hat es ein Ende, und ihr kehrt zu Gott
     zurück. Gebt euch nicht den Verführungen dieser Welt hin.«
    Männer kamen hinzu, und Amiel begrüßte jeden von ihnen mit einem freundlichen Nicken, ohne seine Rede zu unterbrechen. »Paulus
     schrieb: ›Denn jedes Geschöpf Gottes ist gut.‹ Die Kirche lehrt euch, die Welt sei Gottes Schöpfung mit allem, was darinnen
     ist. Merkt ihr, wie das eurer Erfahrung widerspricht? Die Welt ist böse, jeder spürt das. Alles, was in der Welt ist, stachelt
     die Begierde des Fleisches an. Dennoch hat Paulus recht. Unsere Seelen sind gut. Die Welt aber kann niemals Gottes Schöpfung
     sein. O ihr Unvernünftigen, wer hat euch so umgarnt, daß ihr dies nicht versteht!«
    Immer noch hing der Geldbeutel griffbereit am Gürtel der Krämerin. Hatte Amiel es aufgegeben, ihn zu stehlen? Die Blicke zu
     vieler Menschen ruhten auf ihm, wenn er tatsächlich ein Dieb war, dann hatte er sich durch seine Freundlichkeit die Beute
     verdorben. Er stand nun inmitten einer kleinen Menschentraube. Nemo mußte aufstehen, um ihn noch sehen zu können.
    »Es beginnt mit der Speise. Meint ihr, eine Schale Mehlsuppe sei ohne Sünde? Jesus hat nichts gegessen, nicht eine Krume Brot.
     Er wußte, welche Gefahren in den geschaffenen Satansdingen liegt. Zur Frau am Jakobsbrunnen sagte er: ›Meine Speise ist die,
     daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat.‹ Verführerische Nahrung dieser Welt mied er, denn er war ein Geistwesen.«
    Was redete Amiel da? Und warum widersprach ihm niemand? Jesus hatte doch sehr wohl gegessen! Hatten nicht seine Jünger Fische
     für ihn gebraten? Es war doch ausdrücklich |92| berichtet, wie er sie aß. Und hatte er nicht mit ihnen vor seinem Tod zu Abend gegessen?
    Eine Schwangere passierte die Gruppe. Amiel trat heraus. »Frau«, sagte er, und hielt sie am Arm fest.
    Sie blieb stehen, sah ihn erstaunt an. »Kenne ich Euch?«
    »Wenn du willst, bete ich dafür, daß dir der Dämon aus dem Bauch genommen wird.«
    Es erschien Nemo, als sei die Straße plötzlich still. Alle sahen Amiel von Ax an: Die Händler, die biertrinkenden Männer an
     den Tischen des »Raben«, die Vorbeilaufenden.
    Die Schwangere erblaßte. »Was habt Ihr da gerade gesagt?« flüsterte sie.
    »Du hast gesündigt«, sagte Amiel. »Aber dir kann vergeben werden, wenn du dich hinfort rein hältst. In dir wächst ein Seelengefängnis
     heran. Ein Dämon. Du solltest ihn nicht zur Welt bringen. Ich bin bereit, für dich zu beten, daß du davon befreit wirst.«

|93| Sommer 1356
    »Was schimpfst du? Glaubst du, mir war es nicht unheimlich, ihn so reden zu hören? Allen war es unheimlich, der Schwangeren,
     den Krämerinnen, mir. Wir konnten vor Entsetzen nicht atmen.«
    Mathilde schüttelte den Kopf. »Vater, wenn es so gewesen wäre, hättest du ihm nie

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